Philip Jeck – Live in Liverpool
The Caretaker- Patience (After Sebald)
Richard Skelton – Verse Of Birds
Ela Orleans – Mars Is Heaven/Live
U.S. Girls – On Kraak/Live

Literarisch ist die Technik der Überlagerung von Fiktion und Realität gängiges Stilmittel, in die auch die naturwissenschaftlichen und metaphysischen Aspekte des Zusammenhangs von Erinnerung, Gedächtnis und Amnesie – wie z.B. von W.G. Sebald zur Meisterschaft gebracht – relevantes Gewicht haben können.
Wohl bedingt durch die mittlerweile unfassbar großen Tonarchive, die durch die neuen Speichermedien in den letzten Jahrzehnten entstanden und den scheinbar uneingeschränkten Zugang zu diesen Datenmengen, ist in der abstrakten Musik ein Subgenre gesprossen, dass sich an die schriftstellerischen Techniken anlehnt und biographisches und erfundenes Material/Quellen mischt und etwas Drittes generiert.
Philip Jeck war einer der Ersten, der das Thema (kulturelles) Gedächtnis in den Mittelpunkt seines musikalischen Oeuvres stellte.

Ursprünglich war sein Zugang zur Musik in den 1960ern der des Gitarre- und Keyboardspielens, das er aufgrund fehlender Virtuosität und Originalität bald aufgab. Fasziniert vom New Yorker Rap und der aufkommenden DJ-Szene mixte er Ende der 1970er stattdessen auf Warehouse-Parties in London oder Manchester. Der Penny fiel dann aber, als er angefragt wurde die Musik zu einer Choreographie zu gestalten. Mit reduziertem technischem Equipment – Plattenspieler, Casio, Delay-Pedal – entwickelte er seine mittlerweile zur absoluten Reife gelangten Collagen, die Vergangenheit und Zukunft zu vereinen scheinen. Seine Musik versucht der – unerreichbaren – Wahrheit der genauen Erinnerungen nahezukommen. So wie manche Menschen einem zu einem alten Familienphoto jedesmal eine andere Geschichte erzählen, verwischen sich mit der Zeit subjektive Eindrücke mit fremden. Seine Quellen sind vergessen gegangene Schellacks und Schallplatten aus dem 50-Cent-Fach des Trödlerladens um die Ecke, die mit einer Patina von Zeit und Vefall umgeben sind. Mittels Manipulation und Interpretation entsteht bei Jeck ein, natürlich höchst melancholisches, Abbild seiner Umgebung (die Stadt Liverpool). Biografisches (der Tod seiner Mutter beispielsweise) oder Abstraktes sind in dieser Musik auszumachen. Die zerrissenen und verschwommenen Partikel dieser suggestiven Klangbilder setzen sich im Kopf des Hörers wieder zu einer subjektiven, ungenauen Geschichte zusammen.
Mehrschichtig geht es auch im Werk von Leyland Kirby zu. Schon im Kamikaze-Collagen-Projekt V/Vm deutete sich Kirby’s Affinität zur Neuschreibung der Geschichte bzw. deren Manipulation an. Bei den Projekten unter dem Namen The Caretaker oder als Leyland Kirby befasst er sich aber direkt mit dem Auffassungsvermögen des Gedächtnisses bzw. dessen Beeinträchtigungen.

Wie authentisch sind die Erinnerungen an längst vergangene Ereignisse in Wirklichkeit? Wo spielt das Gedächtnis einem einen Streich? Wie wirken sich Traumata, Verletzungen, Krankheiten aus? Was ist Vergesslichkeit, wo beginnt die Amnesie? Die Musik auf Persistent Repetition Of Phrases, Sadly, The Future Is No Longer What It Was oder, aktuell, der Filmmusik für Grant Gees’ psychogeographischen Annäherung an Sebalds Die Ringe Des Saturn ist aber trotz aller Abstraktion und Theorie von einer hypnotischen Sinnlichkeit. Kirby zeigt sich als wahrer Meister der Schichtung und Mischung von Tonquellen und dem eigenen Pianospiel. Verschwommene Fetzen abgenudelter Schlager aus der Ballroom-Ära mischen sich mit einem Grundrauschen. Ist es der Wind, der schlechte Radioempfang oder das Abschweifen der Gedanken? Eingefrorene Melodien verlieren sich in der Endlosigkeit, es knistert geisterhaft aus einer Ecke, irgendwo regnet es aufs Fensterbrett…
Richard SkeltonsDoppel-CD Verse Of Birds ist in West – Irland konzipiert und aufgenommen worden. Als Einflüsse schon immer spürbar und von ihm auch bezeugt, klingt das neue Werk wie schon Wolf Notes, das mit der Sängerin und Künstlerin Autumn Grieve komponiert wurde, angelehnt an klassische Komponisten wie Górecky oder Pärt, aber auch ein junger Zeitgenosse wie James Blackshaw darf genannt werden.

Die Stücke wirken wie Bewegungen eines Ganzen. Die Melancholie der Musik klingt gegenüber den Veröffentlichungen, die in den Mooren unweit von Wigan entstanden bzw. von dieser herben Landschaft inspiriert wurden, in sich ruhender. Der (reale) Schmerz scheint einer universalen Meditation über die Natur gewichen sein. Einsamkeit, Askese, das Gedächtnis der Landschaft sind die Themen, die man aus der Musik herauszuhören meint. Bei den intensiveren Phasen, in denen die gestrichenen Instrumente Obertöne spielen und sich das Klangspektrum nach allen Seiten hin ausfranzt, wird die suggestive Kraft der Musik Richard Skeltons zur Transzendenz, zu Momenten reiner Schönheit.

Einen eindeutig ironischeren Zugang zur Theorie des Verschwindens und dem Gedächtnis (-verlust) haben, wie man bei Auftritten in Straßburg bzw. Basel unschwer sehen konnte, Meghan Remy aka U.S. Girls und Ela Orleans, die jeweils hinter einem Tisch mit Gerätschaften ihre Version einer Aufhebung der Genres präsentierten.

Ela Orleans schöpft für ihre bittersüße Mélange aus aus der Zeit gefallenen Schlagern und abenteuerlichen instrumentalen Klangbildern ihrer Plattensammlung, aber in gleichem Maße auch aus selbst eingespielten Quellen (Gitarre, Piano, Geige etc.), die sie wie schon auf ihren Platten abenteuerlich arrangiert. Dazu singt sie mit polnischem Akzent in Englisch, was die leicht entrückte Be/Verfremdung, die ihrer Kunst innewohnt, noch zusätzlich fördert. Ihr Movies For Ears – Motto auf ihrer Website trifft es exakt, ist ihre Musik schon so gewollt cinematographisch angelegt, dass es einer visuellen Unterstützung nicht bedarf. Bernard Hermann gilt ihr als wichtiger Einfluss, und wie in dessen Filmscores ist alles möglich und eine Gradwanderung zwischen Schlager, Avantgarde, Hörspiel und Punk nur selbstverständlich. Die Ver(w)mischung von Grenzen ist auch Ela Orleans Motto, ihr Auftreten zwischen ungelenk-schüchtern und selbstbewusst – abgeklärt passt da gut. Die fiktiven oder realen Familienphotos, die ihre Plattencover schmücken, die weltgewandten literarischen Zitate, die mit Strophen aus polnischen Schlagern und Eigenem gekreuzt werden, kommen in ihrer Gesamtheit der realen Person Ela Orlean wahrscheinlich sehr nahe. Auf dem Smashhit ihrer letzten Platte Mars Is Heaven, der gleichzeitig eine Anlehnung an Ray Bradbury’s Kurzgeschichte wie eine Abrechnung ihrer Jahre in den USA und den dortigen Gepflogenheiten ist, singt sie unwiderstehlich
go and stand under the stars tonight, look up and think of me
look up and think how i feel, while my rocket grows louder
higher, stranger, wilder and higher
oder
your silent motions, spin webs of delight
in the frozen moment, we become the night
and I am wonderful, and you are wonderful
and we are wonderful, and they are not

Meghan Remy’s Background ist selbstredend ein anderer, nämlich der der Girlgroups und der amerikanischen Kultur an sich, die sie weniger als Enttäuschte als als kritische Beobachterin sieht.
Hinter dem trashigen Wall Of Noise der vorproduzierten Kassetten, den die arg strapazierten Verstärker herausblärrten, meinte man bei ihrem kurzen Auftritt die melodischten Sixties-Pop-Songs heraushören zu können…

 

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