Ripples
January 7th, 2025
eat-girls – Area Silenzio
Able Noise – High Tide
Guests – I Wish I Was Special
Amélie Guillon, Elisa Artero und Maxence Mesnier aus Lyon machten während der Pandemie mit den verordneten Lockdowns das Beste aus der misslichen Situation und gründeten eine Band: eat-girls. Zeit zum Ideen sammeln und Inspiration in den digitalen Musikarchiven zu finden hatten sie. Das Trio fand letztere wohl vor allem im Sound der sich unterkühlt gebenden, retro-futuristischen New Wave – Bands der Früh-1980er Jahre. Die subtil dahinschlurfenden Synthie-Linien, der kristallene Sound der Gitarre, der dubbige Bass und der zurückhaltende Gesang, wahlweise in Französisch, Englisch oder Spanisch – kleiden die meisten Songs in ein verführerisch-melancholisches Gewand, denen der Geist von Bands wie Fall Of Saigon, Delta 5 oder Thierry Müllers Pop-Projekt Ruth innewohnt; der Chorgesang lässt manchmal sogar die unheilvolleren Momente von This Heat wiederaufleben. Die schnelleren Songs, mit dem eckig-minimalistischen Beat der Drummachine unterlegt, locken den einen oder anderen vielleicht sogar auf den Dancefloor. So verführerisch das klingen mag, ist es doch auch verwunderlich, dass man sich als junge Band ganz und gar einer Zeit und einem Nischengenre verschreibt, das über vierzig Jahre alt ist.
eat-girls wirken als Gesamtpaket wie direkt aus einer Londoner Art-School 1980 entsprungen und mit einer französischen très cool-Attitüde versehen. Dagegen ist prinzipiell natürlich nichts einzuwenden.
Die Niederländerin George Knegtal und der in Glasgow verortete Grieche Alex Andropoulos lernten sich an der Kunsthochschule in Den Haag kennen, wo Knegtal Fotographie und Andropoulos Skulptru studierte. Ihre eigentliche Leidenschaft, die Musik, mündete dann im Duo Able Noise. Nach verschiedenen Kassetten und zahlreichen Liveauftritten ist High Tide nun ihr Debut-Album, bei dem die geographischen und musikalischen Einflüsse der offenen und befreundeten Off-Stream- Communities in Den Haag, London, Glasgow und Athen ihre Spuren hinterlassen haben.
George Knegtal (Guitar, Drums, Gesang) und Alex Andropoulos (Drums, Gesang) pflegen auf dem hervorragenden Album eine ausgeprägte Vorliebe für das immer wieder spannende Wechselspiel von Disharmonie und Wohlklang, aber auch die britischen post-rockigen Sound-Ästheten von Pram, Bark Psychosis oder – die Zeitgenossen vom Tara Clerkin Trio haben wohl tiefere Spuren hinterlassen. Die befreundeten Musiker – Ion Alexandropoulos, Sotiris Ziliaskopoulos, Alex McKenzie, Magdalena McLean, Oliver Hamilton – beteiligen sich subtil mit Violine, Klarinette, Saxophon und Gitarren an der Feingestaltung des Albums.
Tape-Manipulation lassen manche Stücke wie der Opener To Appease immer wieder wie in der Zeit verharren, bevor das Stück sich dann in eine andere Richtung weiterbewegt und die Irritation dann vollständig ihren Lauf nimmt. Mit erstaunlicher Gelassenheit konstruieren Able Noise experimentell-anmutende, aber auch im Kern beinahe klassische Songstrukturen, die beim Wiederhören immer wieder Neues entdecken lassen. Distortion und Harmonie, Gitarrenparts, die manchmal an die großen Meister dieses Genres (Fahey, Basho) anknüpfen, bevor man sich wieder wie auf einem schwankenden Schiff fühlt, wenn die Geschwindigkeit des Songs ins Wanken gerät, sich beschleunigt oder verlangsamt, man leicht somnambulant in den faszinierenden Klanglandschaften umherirrt.
Jessica Higgins und Matthew Walkerdine sind auch irgendwie aus der Zeit gefallen, und das aus Prinzip! In der Glasgower DIY-Szene sowohl in der Kunst, als Publizisten von Independent Magazinen und nicht zuletzt in Bands wie Mordwaffe und Vital Idles aktiv, überraschen sie nun als das Duo Guests.
Als sympathische Trendverweigerer und von einem anarchisch-frechen Geist beseelt kann ein Album wie I Wish I Was Special nur aus Großbritannien kommen.
Mit Hilfe von Billigelektronik, Samples von Filmszene, verwaschen klingende Field Recordings – aufgenommen in Brüssel und Glasgow, Amsterdam – Spoken Words, Gesang und jede Menge Instinkt montieren sie klassische Song/Sound-Collagen, die abwechselnd persönlich, surreal, ironisch, alltäglich oder alles zusammen sein können. Was zuerst wie die sanfte Kakaphonie eines ungenau eingestellten früheren analogen Kurzwellensenders klingen mag, setzt sich unbemerkt in den Gehirnwindungen fest und entfaltet neben den dronigen Loops nach und nach auch seine Pop-Hooks.
best of 2024
January 3rd, 2025
Music
Guests – I Wish I Was Special
Able Noise – High Tide
Chlothilde – Cross Sections
Polido – Hearing Smoke
Kim Gordon – The Collective
Rosso Polare – Campo Amaro
Die Nerven – Wir Waren Hier
J Dilla – Donuts
Brigitte Fontaine – Pick Up
Maria Reis – Suspiro
Blur – The Ballad of Darren
Ana Lua Caiano – Vou Ficar Neste Quadrado
Brighde Chaimbeul – Carry Them With Us
Sega Bodega – Dennis
Laura Cannell – The Rituals Of Hildegard Reimagined
Jahari Massamba Unit – YHWH Is Love
Carme López – Quintela
Jungle – Volcano
Charli XCX – Brat
Film/TV
Bertrand Bonello – La Bête
Payal Kapadia – All We Imagine As Light
Andrew Haigh – All of Us Strangers
Richard Gadd – Baby Reindeer
Miguel Gomes – Grand Tour
Alain Guiradie – Miséricorde
Nic Pizzolatto – True Detective: Night Country
Chantal Akerman – Retrospektive
Rachel Kondo, Justin Marks – Shōgun
Todd Haynes – May December
Rodrigo Moreno – Los Delincuentes
Patricia Highsmith, Steven Zailian – Ripley
Thierry De Peretti– À Son Image
Victor Erice – Close Your Eyes
Donald Glover, Francesca Sloaney – Mr. & Mrs. Smit
Books
Paul Simpson – Revolutionary Spirit
Toni Tulathimutte – Rejection
Arthur Nersesian – The Fuck-Up
Joseph Roth – Das Spinnennetz
Dagmar Herzog – Cold War Freud
Roderick Beaton – Ελλάδα, Βιογραφία ενός σύγχρονου έθνους
Mariana Enriquez – Um lugar luminoso para gente sombria
Orhan Pamuk – Das Museum der Unschuld
Eleanor Catton – Birnam Wood
Roberto Bolaño – 2666
Matrix – Making Space: Women and the Man Made Environment
Nicole Flattery – Nothing Special
Sally Rooney – Intermezzo
Valdemar Cruz – Paisagens Construidas
Phil Mailer – Portugal, Die unmögliche Revolution
Patti Smith – Just Kids
Philipp Lenhard – Café Marx, Das Institut Für Sozialforschung
Lion Feuchtwanger – Die Geschwister Oppermann
Cathi Unsworth – Bad Penny Blues
Ripples
December 31st, 2024
Clothilde – Cross Sections
Molero – Destellos del Éxtasis
Polido – Hearing Smoke
Midget – Qui Parle Ombre
Sofia Mestre, die Künstlerin hinter Clothilde, musste erst 40 Jahre alt werden, bevor sie das Komponieren von Musik für sich entdeckte. Nun, sechs Jahre später, erfährt Clothilde durch Holuzam nach verschiedenen schon hervorragenden Tapes und digitalen Veröffentlichungen mit ungewöhnlicher Drone-Musik “für und von” Maschinen, aber auch Produktionen für das Theater die nächsthöhere Anerkennung mittels einer LP- Produktion auf dem wohl innovativsten Label im Land. Zuvor studierte und lebte sie einige Jahre in Spanien und arbeitete als Coloristin für das Kino und für diverse Werbeagenturen. 2009, als in der sich anbahnenden Krise viele junge Menschen Portugal verließen, kehrte sie in ihre Heimatstadt Lissabon zurück und widmete sich in ihrer freien Zeit dem Zeichnen und der Fotographie. Zusammen mit ihrem Partner experimentierte Sofia Mestre auch mit dem Bauen und Entwickeln von Modularen, die schließlich zu einer elektronischen Maschine gedeihten, mit der man Sonores ähnlich wie beim Zeichnen gestalten konnte.
Die ersten Veröffentlichungen gingen Hand in Hand mit einer sanften Aufbruchswelle von gleichgesinnten portugiesischen Musikerinnen – Raw Forest, Jejuno oder Caroline Lethô – die den Spuren der Pionierinnen der elektronischen Musik folgten und durch die Verfügbarkeit von modernerem Equipment eigenständige, neue Musik komponieren konnte, ohne auf den guten Willen von Produzenten angewiesen zu sein.
Wie Sofia Mestre mit einem Augenzwinkern bemerkt, läuft auch die selbstgebaute Maschinerie auf Cross Sections immer mal wieder Gefahr aus dem Ruder zu laufen und die Kontrolle zu übernehmen. Die Songs sind aber ganz im Gegenteil präzise durchstrukturiert und bilden aber auf dem Album ein breites Spektrum von introspektiven bis roh- brutalistischen und emotionalen Stimmungsbildern ab, die man so tatsächlich noch nicht gehört hat.
Alexander Moleros Debut-Album Ficciones Del Trópico war in der auflagenarmen Welt der experimentellen elektronischen Musik, in der 500 gepresste Exemplare schon meist schon zuviel sind, ein überraschender Erfolg und sogleich, wie auch die Zweitauflage, vergriffen. Der nach Barcelona übersiedelte Venezulaner Molero vermochte mit einem Yamaha CS-60 Synthesizer, Flöten und Naturaufnahmen von Vögeln und anderen Bewohnern des Tropenwaldes und einem ironischen Blick von außen auf seine Heimat ein üppiges Soundgemälde zu kreieren.
Die Vorstellung wie Naturforscher, Abenteuerer und Künstler aus Europa und den USA die Wildnis über Jahrhunderte romantisierten bewegte Molero und mit “time on his hands” erschaffte er ein alternatives Traveller-Manual. Ein wenig an die Tzadik-Formationen Death Ambient (Kato Hideki, Ikue Mori, Fred Frith) und Phantom Orchard (Ikue Mori, Zeena Parkins) oder das Kult-Album von David Toop und Max Eastley Buried Dreams und nicht zuletzt Mike Coopers Explorationen angelehnt, lässt es sich bestens in eine stimulierende und simultierte Welt abtauchen.
Die Songs auf dem Nachfolgealbum Destellos del Éxtasis sind nun, obwohl auch hier mit dickem Pinsel aufgetragen wird, introspektiver und verästelter, aber auch beliebiger. Anstatt mit neugierigem Blick sich Schritt für Schritt in den Urwald vorzuwagen, hat der Protagonist diesesmal wohl beim erstbesten Schamanen- Camp haltgemacht und Frösche abgeleckt. Die daraus resultierende Ekstase ist aber eher schal als schillernd ausgefallen und der Grad der Bewusstseinserweiterung ist überschaubar, obwohl die musikalischen Zitate aus hippieeskem Krautrock und Eso-Ambient natürlich ihren Reiz haben. Molero sucht diesen auf Destellos Del Éxtasis in einer neuen Innerlichkeit.
Übrigens bedient sich Fenna Schilling, die für die Covergestaltung verantwortlich zeichnet, auf das Offensichtlichste bei Johannes Scheblers Baldruin Ablum Relikte Aus Der Zukunft und dessen Sci-Fi-Psychedelic-Ästhetik.
João Polido zelebriert auch auf seinem neuen Album Hearing Smoke, wie schon auf der Doppel-Kassette mit der Filmmusik für Madalena Fragosos und Margarida Meneses Film Sabor A Terra und A Casa E Os Cães, die kurze Aufmerksamkeitsspanne. Schon nach zehn Minuten sind die ersten vier Stücke des Albums durch und doch laufen die Songs nicht Gefahr, sich in Überambition zu verlieren.
Sehr eigen und doch ganz in der Tradition der experimentellen Musik in Portugal, die erstaunlicherweise trotz aller Gentifizierung auch der Kultur ein ganz eigenen Weg verfolgt, springen die scharf-geschnittenen Montagen von abstrakten Beats zu Jazzelementen, von Noise zu Zitaten zeitgenössischer portugiesischer Komponisten prä- und postrevolutionär. Vieles passiert simultan und man hört der Musik mit seinen manigfaltigen Stimmungsbildern zwischen Introspektion, urbaner Hektik, düsterer Vorahnung vor allem auch den Filmkomponisten, der er unter anderem ist, an.
Claire Vailler und Mocke Depret veröffentlichen nach sieben Jahren ihr viertes gemeinsames Album als Midget! auf dem Pariser Künstler-Label Objet Disque. Mehr Kammer- als Popmusik – unter anderem vertonen sie ein Gedicht von Apollinaire – sind die Songs wie schon auf dem Vorgänger Ferme Tes Jolis Cieux äußerst ambitioniert.
Im Gegensatz zu den zahlreichen anderen individuellen Projekten von Vailler und Depret haben sie hier die Leichtigkeit und Zugängichkeit zu Gunsten einer existenzialistischen, traumhaften Schwere außen vor gelassen, noch verstärkt durch Streicher und Harmonium. Die Songs klingen wie in der Zeit eingefroren; nichtsdestotrotz lässt sich in den Arrangements der Stücke weiterhin subtil die Vorgeschichten der Beiden heraushören, was eine faszinierende Mischung aus Sophistication und Zugänglichkeit ergibt, wie sich das Mittelalter mit der Gegenwart vereint. Mit Qui Parle Ombre setzen sich Vailler und Depret gerne zwischen alle Stühle – nicht impressionistisch, nicht romantisch, nicht neutönerisch, nicht chansonesk, nicht avantgardistisch und doch alles auch zusammen.
http://www.holuzam.bandcamp.com
Ripples
November 25th, 2024
Free Folk New Ruralism
Carme López – Quintela
Laura Cannell – The Rituals Of Hildegard
Ana Lua Caiana – Vou Ficar Neste Quadrado
Memorials – Waterslides
Rosso Polare – Campo Amaro
Layla Martínez, Olga Merino Sara Mesa, Irene Solà – Literatur über ein entvölkertes spanisches Hinterland
Mit der Gaita – einer galizischen Variante des Dudelsacks /Bagpipe – versetzt die Musikologin und Lehrerin Carme López an diesem heißen Nachmittag im Atelier des Sechoirs, einem der vielen Veranstaltungsorte dieser Ausgabe des Méteo Festivals in Mulhouse, das Publikum in die ländliche Stimmung ihres Elternhaus im nordspanischen Hinterland. Fein ziselierte elektronische Miniaturen und Feldaufnahmen fügen sich in die langen dronigen Kompositionen ein. Tradition, folkloristische Sagen und Geister, aber auch das unvermeidliche Gefühl der Vergänglichkeit weiß Carme López mit ihrer Musik in Töne zu fassen. Wie auch auf ihrem Album Quintela (Kassette) stehen ihre Kompositionen trotz dem traditionellen Bezug vor allem ihren Vorbildern Éliane Radigue, Pauline Oliveros oder auch den aus ihrer Generation stammenden Kali Maloni und Brighde Chaimbeul nahe. Die nach wie vor etwas seltsame und manchmal irritierdende Verbindung von Harmonie und Drones, die die Musiker dem Instrument entlocken können, bringt in den letzten Jahren spannendste Resultate hervor. Galizien als Rückzugs- und Kreativort ist nebenbei auch für nicht einheimische Musiker offenbar ein Geheimtipp zur Inspirationsfindung geworden. Esben and The Witch haben dort ihr letztes Album komponiert wie unter vielen anderen auch die progressive Folkmusikerin und Lyrikerin Josephine Foster.
Interessanterweise gibt es auch in der spanischen Literaturszene eine kleine Welle mit Romanen von Schriftstellerinnen, die sich ganz in der Tradition des legendären Buchs von Julio Llamazares – Das Gelbe Haus – Der beeindruckende Monolog des letzten Einwohners eines Dorfes in den Pyrenäen, der nach und nach von den Geistern der ehemaligen Nachbarn und der Familie heimgesucht wird und seine eigen Kräfte zum Überleben schwinden sieht – einem Neo-Ruralismus verschrieben haben.
Die ganz oder fast verlassenen Dörfer, vor allem im Süden Spaniens sind eine Realität. Teilweise findet aber seit einigen Jahren eine noch kaum spürbare Gegenbewegung statt: die Pandemie, die Gentifizierung in den Städten oder schlicht der Wunsch, ein selbstbestimmtes, einfacheres Leben zu führen, lassen manche den Rückzug aufs Land antreten. Die Verklärung wird dann meist von der harten Realität eingholt. Olga Merino schildert im düsteren La Forastera das Leben einer mittelalten Frau in einem Dorf mit ihren zwei Hunden, die sich bewusst am Rande der Gesellschaft bewegt. Die wenigen Einwohner, die noch im Dorf leben, begegnen ihr mit Misstrauen oder stempeln sie als verrückt ab. Während sie ihre Hütte und den Garten pflegt, tauchen die Geister der Vergangenheit auf: Geheimnisse der Familie, eine verflosene Liebe und und ein gefundener Toter vermischen sich mit den Erzählungen von früheren Morden in der Gegend.
Layla Martínez erzählt in Caruncho die Rückkehr einer Nichte in ihr Heimatdorf und lässt einen tief in das Herz eines entvölkerten Spaniens blicken, wo die Franco-Zeit noch nicht aufgearbeit wurde. In einer sterilen Atmospähre werden Rachegedanken geschürt und unbewältigte Traumata blockieren die Gefühlswelten.
Irene Solà erzählt in Eu Canto E A Montanha Dança episodenhaft das Landleben in den Pyrenäen von heute und kontrastiert es mit überlieferten mündlichen Geschichten, die natürlich metaphysisch aufgeladen sind und von Gespenstern und zwischenweltlichen Gestalten bevölkert sind.
Die Hauptperson in Sara Mesas Eine Liebe, ist eine Frau, die die Stadt verlässt, um sich ähnlich wie die Protagonistin in La Forastera in einem kleinen Dorf auf dem Land einzurichten. Auch sie wird in der monotonen Landschaft der Olivenhaine bei den Einheimischen zum Eindringling und Fremdkörper und muss einen Weg finden, sich nicht in der Einsamkeitshölle zu verlieren
Die Kompositionen und vor allem der – überlieferte – Werdegang der Nonne, Herbalistin und Mystikerin Hildegard von Bingen hat schon manches Underground-Projekt, vor allem aus dem Post-Industrial-Umfeld, die brisante Würze für einen intellektuellen Überbau gegeben. Laura Cannell, die Musikerin aus Norfolk, hörte die Interpretationen Hildegard von Bingens Canticles Of Ecstasy in der Version von Sequentia, so die Linernotes, zuerst bei ihrem Onkel 1997.
Die Musik aus den dunklen Mittelalterzeiten vor tausend Jahren passt gut zum bisherigen musikalischen Werdegang von Laura Cannell. Ihr Interesse für Alte Musik, mystische Folk-Waisen aus dem ruralen England vergangener Tage und experimentellen Drones, entsprungen aus unseren Tagen zieht sich durch ihr Ouvre. Mittels Bass-Rekorder und Zwölfsaitiger Harfe hebt sie die raue Schönheit der ursprünglichen Melodien, zusätzlich inspiriert durch die Aufnahmen in der Dorfkirche eines verlassenen Dorfes beim Broads National Park in Nofolk, auf eine zusätzlich unweltliche, zeitlose und natürlich spirituelle Ebene, die einen durch das transportierte Gefühl von allumfänglicher Einsamkeit zwischenzeitlich erschauern und innehalten lässt.
Die junge Portugiesin Ana Lua Caiano,Tochter des Schriftstellers Gonçalo M. Tavares und der Illustratorin Rachel Caiano, sorgte mit einem Vertrag beim Label für die etwas andere Weltmusik Glitterbeat und ihrem Debut-Album Vou Ficar Neste Quadrado für Aufsehen in der einheimischen Presse. Vor allem bringt sie aber frischen Wind in das etwas zum Einfallslosen verkommenen Genre der traditionellen Musik.
Bei langen Autofahrten als Kind mit ihren Eltern mit einem Soundtrack der progressiven Liedermacher aus den 1970ern der portugiesischen Musik – Fausto und José Afonso unter anderem – geimpft, greift sie diese Einflüsse in ihrer eigenen Musik wieder auf. Schon früh setzte sie sich mit Musik auseinander, das Erlernen von Instrumenten schon als Kind prägte, aber natürlich kommt man in einer internationalen Stadt wie Lissabon und seinen außergewöhnlich vielseitigen Szenen mit allen musikalischen Trends hautnah in Kontakt.
Ihre erste EP Cheguei Tarde A Ontem bot 2022 schon einen Vorgeschmack, aber auf dem während der stillen und dunklen Pandemiezeit produziertem Debutalbum stimmt die Mélange aus den in der Tradition portugiesischen Folk-Musik stehenden Melodien, die manchmal an die folkloristischen obertonsingenden Vokalensembles erinnern und die nervösen elektronischen Beats und Synthesizerlinien perfekt. Ana Luas Caianos Gesang ist da auch mehr an die experimentellen artifiziellen der Popavantgarde als an Fado angelehnt.
Nach den zurecht hochgelobten und inhaltlich subversiven Filmmusik-Soundtracks Women Against The Bomb und Tramps erscheint nun auch das Debutalbum von The Memorials: Waterslides. Verity Susman (vormals bei Electrelane) und Matthew Simms (Gitarrist bei Wire) lassen noch viel mehr als bei ihren anderen Bandprojekten die unterschiedlichsten persönlichen Vorlieben in die Songs einfließen. Zugleich catchy und verschwurbelt, introspektiv und punkig wandeln sie zwar in erster Linie auf ihren ganz eigenen Spuren, führen aber auch die Tradition von geheimnisumrangten britischen Bands wie Pram oder Movietone fort, die ihre fantasievollen musikalischen Psychogeographien facettenreich und labyrinthisch gestalteten.
Versteckt in zehn Popsongs der ganz eigenen idiosynkratischen Art geht es vom Folktune zur Sun Ra-artigen Jazz-Improvisation, von der Sixties-Pop Hymne, die auch dem Hair-Soundtrack gut angestanden hätte zum keyboardigen, spacigen Freak Out.
Zwischen Brescia und Milano spüren Cesare Lopopolo und Anna Vezzosi vergessen gegangene historische Fakten auf und stellen sie in Kontext zu musikalischen Bewegungen. Auf nunmehr vier Alben – das letzte erschien auf dem legendären ADN aka Recommende Records Italia – Label – greifen sie die Linie der in letzter Zeit etwas abebnenden experimentellen Szene in Italien wieder auf.
Das aktuelle Album Campo Amaro, als Kassette auf dem kanandischen Students Of Decay Label erschienen – widmet sich den vernachlässigten oder schlicht sich selbst überlassenen Kanälen und Bächen, die viele italienischen Städte umrunden und heute ihre Wichtigkeit als Transportwege verloren haben und oftmals stark verschmutzt sind. Andererseits hat sich die Natur die Böschungen und die teilweise ausgetrockneten Flussbette zurückerobert und mit spröden und widerstandsfähigen Pflanzen und Kräutern bewachsen lassen. Eine Metapher für widerborstige Musik: Cesare Lopopolos und Anna Vezzosis Songs lassen elektroakustische Experimente, jazzige Exkursionen und Noise-Elemente auf im Hintergrund geisterhaft wahrnehmbare traditionelle Widerstandslieder treffen. Ähnlich wie bei der hervorragenden Antologia de Música Atípica Portuguesa – Reihe auf Discrepant-Records gelingt es Rosso Polare durch diese Verbindung die Folksongs nicht nostalgisch zu verklären, sondern in die Gegenwart zu transportieren.
Ripples
November 8th, 2024
BRDCST Festival Bruxelles 2024
Überzeugender als viele größere und bekanntere Festivals gelingt es der Crew des BRDCST-Festivals in Brüssel seit Jahren die jeweils aktuell innovativsten Musiker aus unterschiedlichen Genres des internationalen experimentellen Spektrums für ein verlängertes Wochenende in Belgiens Hauptstadt zu gewinnen. Als Veranstaltungsorte kamen dieses Jahr neben dem gewohnten Ancienne Belgique auch die fußläufig entfernte Kirche Notre Dame Aux Riches und das Cinema Palace gegenüber dem dazu.
Die Pre- (Autechre) und After (Oneothrix Point Never) – Shows hatten es, was Hochkarätigkeit anbelangt, schon in sich; für den Freitagabend und den allgmeinen Auftakt des Festivals zeichnete sich dann aber Tirzah, die man schon einmal auf der Bühne des Festivals erleben durfte, als Kuratorin für ein congeniales Programm mit all den cutting-edge Musikern aus ihrem Umfeld und Freundeskreis verantwortlich – Coby Sey, Lorraine James, Mica Levi, Anja Ngozi und als Nicht-Londoner Meril Wubslin.
Hyperaktivität und eine aus Prinzip künstlerische Uneinsortierbarkeit verbindet die Londoner Musiker neben der langjährigen Freundschaft. Mica Levi kommt ja wie manch einer weiß aus einer Künstlerfamilie. Als Wunderkind spielte sie schon mit vier Jahren Violine und studierte dann später in London an der Guildhall School Of Music And Drama, nur, um dann vor dem Diplom abzubrechen und mit ihrer verqueren Pop/Punk-Band Micachu & The Shapes und einem Plattenvertrag von Rough Trade in der Tasche erst einmal ihre Vorstellung von Sophistication außerhalb den Hochkulturzirkeln zu verfolgen. Die Annäherung an klassisches Komponieren lebte sie dann mit den Soundtrackarbeiten für Arthousefilme und in engen Zusammenarbeiten mit unkonventionellen Regiesseuren wie Jonathan Glazer aus. Zurück auf die große Bühne des Ancienne Belquiques: Solo mit elektrischer Gitarre leitet Mica Levi den Abend von Tirzah auf ihre Art ein. Songs auf das absolut Grundsätzlichste reduziert, weder Folk, noch Rock, aber den Punkspirit insichtragend zeigt sie wieder eine andere unerwartete Facette ihres Könnens.
Coby Sey ist ein weiteres Universaltalent in Sachen zeitgemäßen musikalischen Outputs. Seine kulturellen und biographischen Hintergründe – er wuchs in den sich sehr schnell verändernden Südlondoner Stadtvierteln von Lewisham und Peckham auf – hört man in seiner, sich aus einflussreichen britischen Musikstilen, von Post-Punk, Grime, Spoken Word zu weirder Electronica speisenden komplexen Kompositionen deutlich heraus.
Dass seine eigene Musik sich bislang nur in einem Album – Conduit von 2022 – manifestierte, mag vor allem daran liegen, dass ihn die zahlreichen Produktionstätigkeiten und Filmmusik-Auftragsarbeiten in Trapp hielten. Zudem spielt er auch in der Band von Tirzah.
An diesem Abend konnte man die Beiden sogar als Duo erleben. Tirzah begeisterte das Publikum schon vor zwei Jahren beim BRDCST-Festival mit ihren süchtigmachenden Songs, eine so nicht kopierbare Mischung aus Pop, Post-Grime und R & B, gesungen mit scheinbarem Understatement. Die Songs auf ihren mittlerweile drei Alben wirken zwar wie dahingehuscht und wie nebenbei zum Beispiel in der Küche oder beim Aufräumen gesungen, sind aber natrülich doch ausgeklügelte Perlen und ein alternatives, persönliches Statement zum Leben in der Metropole. Auf der Bühne steht heute ein Lounge-Sofa, als Dekoration und auch Ort, um von dort aus die Wohnzimmeratmosphäre, die ihre Musik ausstrahlt, zustätzlich zu unterstreichen. Die leichte Windschiefheit der Songs wird durch die noisigen elektronischen Sounds von Coby Sey noch zustätzlich auf eine parallele Ebene gehoben.
Die Ehre, jedes Jahr eines der wegweisenden Alben von Can durch eigene Interpreation in ein neues Licht zu rücken wurde dieses Jahr dem in Brüssel wohnenden Saxophonisten Shoko Igarashi zuteil, der dem luftig-spacigen Meisterwerk Future Days mit seinen Mitmusikern, unter anderem einer Harfistin, im Clubraum des AB auch eine nicht werkgetreue sympathische Note gab.
The Necks machten das, was sie schon seit 35 Jahren in sich immer wieder variierender und doch gleicher Weise tun: mit Piano, Bass und Schlagazeug Minimalismus, Introspektion, Jazz und Klassik das perfekte Zusammenspiel auf eine manchmal fast metaphsyische Ebene zu heben. Attila Csihar konfrontierte Brüssel mit der Interpretation seines Void ov Voices – Projekts, das heißt animalischem Kehlkopfsingen und Texten aus den Verliesen diverser Zwischenwelten. Das allles stilecht hinter einem von Kerzen beleuchtenden Altar stehend, seinem Ruf als Extrem-Matal-Vokalist nicht abhold zu werden. Die Japaner von Goat sind ausgemachte Perfektionisten. Ihre Musik, die gerne als minimal techno ohne elektronische Instrumente beschrieben wird, wird von exakten Perkussionsgewittern getragen, die, ganz japanisch, dem Rituellen nahestehen.
Amaro Freitas aus Recife spielte auf dem Piano einerseits Jazz in der Tradition der großen Meister aus den 1960ern Jahren, aber mit einem warmen, brasilianischen Einschlag und wurde ebenfalls vom Publikum mit warmen Applaus bedacht.
Alabaster DePlume, schwer angesagt und mit einer noch angesagteren Veröffentlichung auf International Anthem, stellte sich mit seinen Saxophon- und Hampelmann-Kapriolen als eher unangenehme Nervensäge heraus, die sich auch nicht zu schade war, das Publikum mit billigen politischen Kommentaren zum Weltgeschehen zu animieren.
Die Schlagzeugerin Valentina Magaletti war mit zwei Bands – den Post-Punker Moin und den ebenfalls zurecht hochgelobten Holy Tongue, die in Fußstapfen von Projekten aus dem Adrian Sherwood-Stall und modernem Dj-ing präsent.
Zwischen all den unterschiedlichen Musikern und Genres, die das Festival auch dieses Jahr wieder zu bieten hatte,
gab es nach dem Tirzah-Programm einen zweiten Schwerpunkt: Free Folk.
Mehr London als es das neunköpfige Shovel Dance Collective verkörpert, geht wohl nicht! Weit weg von jeglichem konservativen und kolonialem Denken oder gar strengen Bewahren der traditionellen Songs, interpretiert das bunte, queere Kollektiv mit alten und teilsweise selbstgebauten Instrumenten unbekanntere Protestsongs, Seefahrtslieder, Mystisches oder Thematisches wie auf ihrem Debutalbum, das sich thematisch um Wasser dreht. Eine Affinität zu Drones und abenteuerliche, freie Abzweigungen der Folktunes lässt das Kämpferherz des Publikums höher schlagen. In der Notre Dame Aux Riches Claires Kirche, wo sich die Musiker vor dem Altar im Halbkreis versammeln wird schnell noch vor Konzertbeginn Jesus verhüllt; keine United Bible Studies also, sondern sozialistisches Gedankengut heißt die heutige Botschaft.
Brighde Chaimbeul verbindet auf unwiderstehlich charmante Weise traditionelle rurale Songs ihrer Heimatinsel Isle Of Skye mit transzendenten Drones. Harmonie und Dissonanz gehen in ihren Songs Hand in Hand und ihr Instrument – der kleine Dudelsack oder eleganter ausgedrückt – Scottish Small Pipe – lässt in ihrer zur Könnerschaft gereiften Technik eine fesselnde Musik entstehen, die in sich wiederholenden Melodiefolgen eine trance-ähnliche Stimmung zwischen Außerweltlichem und Meditativem kreieren vermag, aber auch die rhythmusbetonten, Tänzen entlehnten, derrwischartigen Momente kommen zum Zuge. Auf ihrem aktuellen Album arbeitete sie mit dem kanandischen Saxophonisten und Freigeist Colin Stetson zusammen, was der Musik und vor allem den droneartigen Sequenzen eine zusätzliche faszinierende Schattierung gibt.
Youmna Saba, Musikologin, Out-Spielerin, verlegte vor einiger Zeit ihren Wohnort von Beirut nach Paris. Ihre Musik speist sich aus einem ätherischen Klangteppich, den sie sparsam mit ihrem Hauptinstrument als Grundlage aufbaut, um darauf durch elektronische Verfremdung und Sprache/Gesang eine phasenweise meditative, introspektivische Stimmung zu kreiieren. Ästetisch ist sie als ausgewiesene Klangkünstlerin allerdings beim Touch Laben von Jon Wozencroft sehr gut aufgehoben.
Clarissa Conelly, in Schottland geboren, aber seit langer Zeit in Dänemark wohnend, hat sich in ihren Acapella – oder mit Piano oder Gitarre interpretierten Songs als Künstlerin zur Aufgabe gemacht, “das Leben, den Tod und das Göttliche in meiner Musik zu vereinen.”
Intim, irgendwie vom Himmel gefallen wirkt ihre Musik, die auch Einflüsse aus der traditionellen schottischen und nordeuropäischen Folkmusik integrier, allemal, noch zusätzlich verstärkt in der atmosphärisch aufgeladenden Notre Dame Aux Riches Claires Kirche. Trotzdem wirkt die quirlige Künstlerin alles andere als streng bibeltreu.
Ihre Mischung aus Art Pop, liturgischen und naturreligiösen Einflüssen und der Idee von Extase und Apocalypse in ihren Songs in Einklang zu bringen, rief sogar die coole Warp Records Crew aus Sheffield auf den Plan, die ihr Debutalbum veröffentlichten.