Ripples

May 26th, 2020

Aksak Maboul – Figures

Das Konzert hätte in einem der derzeitigen Kreativlabors der belgischen Hauptstadt stattfinden sollen: den Ateliers de Claus, im elegant verwitterten Jugendstil-Stadtteil Saint Gilles gelegen.
Die Präsentation des dritten offiziellen Aksak Maboul Albums zum vierzigjährigen Jubiläum musste aus naheliegenden Gründen um unbestimmte Zeit verschoben werden.
Rückblick, Ende der 1970er Jahre:
Trotz nicht unbedeutender Konkurrenz beeinflusste Marc Hollanders Band, die er mit dem späteren World Music- Produzenten Vincent Kenis gründete und sein Label – Crammed Disc – die traditionell offene und heterogene musikalische Szene Brüssels nachhaltig. Kasai Allstars, Konono N°1, Juliana Molina, Bebel Gilberto oder Yasmine Hamdan sind zweifellos die Namen, die für die internationale Ausrichtung des Labels im vergangenen Jahrzehnt standen und deren Musik den Sprung vom Außenseitertum zum Mainstream meisterte. Die sperrigen Urgesteine Tuxedomoon, die jahrelang Brüssel zu ihrem Refugium machten, die Soundkünstlerin Bérangère Maximin, die exzentrische Hermine, Minimal Compact und Aksak Maboul / Honeymoon Killers sind aber mindestens genauso bedeutend für die Labelhistorie.
Die Blaupause für Crammed Discs Onze Danses Pour Combattre Le Migraine von Aksak Maboul erschien ursprünglich aber auf Kamikaze Records, einem Brüsseler Label, das von dem Radio-DJ Marc Moulin mit einem Faible für das Abseitige ins Leben gerufen wurde und … genau für vier Alben existierte. In einer Zeit in den 1970ern als die Sex Pistols gerade begannen das tröge Musikgeschäft mit inszinierter Bad Boy-Attitüde aufzumischen und Munich Disco und bombastischen Prog Rock nach Jahren des Stillstands endlich in die Schranken wiesen, beriefen sich Marc Hollander und Vincent Kenis hingegen auf satieeske Minimalismen, Jazz, osteuropäische Folklore, Neue Musik und you name it. Eine Musik, die melancholisch, verspielt und auf verblüffende Art neu und subversiv klang. Das zweite Album Un Peu de l’âme des Bandits stand dagegen ganz im Geiste des intellektuellen Art Rocks; kein Wunder, spielten doch Mitglieder von Henry Cow und Univers Zero eine prägende Rolle.

Die anschließende Fusion mit der Band von Yvon Vromman und Véronique Vincent The Honeymoon Killers zu einer Avant-Pop-Supergroup ergab sich dann von selbst, erschien doch deren Album Les Tueurs de la Lune de Miel auf Crammed Discs. Die Formation löste sich aber dann nach ausgiebigen Tourneen durch Europa doch vorschnell auf. Hollander komponierte mit Véronique Vincent fleißig neue Stücke, die aber nie fertiggestellt wurden und erst 2014 erschienen (Ex-Futur Album).
Nun also Figures: ein Doppelalbum, das mit Hollander und Vincent als Kerngruppe, verstärkt um die nervösen, hyperaktiven Mitglieder von Aquaserge, Faustine Hollander, Steven Brown, Michel Berckmans und anderen älteren und jüngeren Weggefährten das ganze eklektische Univerum der Band vereint. Figures ist ein Album, das zwar nicht zu neuen Ufern aufbricht, aber die ursprüngliche Idee auf charmanteste Art weiterträgt.
Wie schon beim Ex-Futur-Album gibt die Künstlerin Véronique Vincent, gespeist mit einer nicht zu knappen Dosis Surrealismus, der Literatur der Morderne und einer Menge anderer, oft belgischer, Querverweise eine intellektuelle Version von Lio und Françoise Hardy. Hollanders, so verschachtelt wie melodische Kompositionen sind von Tasteninstrumenten und Drum Programming geprägt, darüber entfalten sich die von Aksak Maboul gewohnten Abzweigungen und Verirrungen und Verwirrungen in alle denkbaren musikalische Stilrichtungen von Belang.
Ein Pop-Album zwischen der eckigen Tradition des New Waves und den frankophonen, poetischen Höhenflügen von Sophie Jausserand und Guigou Chenevier (A L’Abri Des Micro-Climats).

http://www.crammed.be

Ripples

April 24th, 2020

Delphine Dora – L’Inattingible / Brigitte Fontaine – Terre Neuve

“Alles trägt zur Isolation bei: voneinander unabhängige Home-Studios, Telefon und Fax, Sampling und Synthesizer, Computer, willkürliche Klassifizierung der Musikarten, Verschwinden der kleinen, spezialisierten Schallplattenhändler, kleinbürgerliche Streitereien, fehlende Gesprächspartner innerhalb der Institutionen, gleichsam ein Nichtexistieren der Kritik…”
So hieß es in den Linernotes zur Urgent Meeting – Serie, die das intellektuell und künstlerisch in alle Richtungen offene Musikerkollektiv Un Drame Musical Instantané zu Beginn der 1990er Jahre, als neue Technologien zugleich Fluch und Segen für die unabhängigen Musikfirmen und Musiker wurden, veröffentlichte: ein Ausruf zur Zusammenarbeit Angesicht zu Angesicht.

Gerade jetzt tragen auch nicht selbst bestimmbare Begebenheiten zur Isolation bei, aber beim Hören von Delphine Doras neuer Platte L’Inattingible, die in Zusammenarbeit mit befreundeten Musikern bei geplanten oder spontaner Treffen in verschiedenen europäischen Städten oder vielleicht auch per Mail entstand, kommen einen die Pariser Pioniere der multidisziplinären Avantgarde in den Sinn, und vor allem die unkonventionell denkende und spontan handelnde Hélène Sage.

Delphine Dora veröffentlichte in den vergangenen Jahren auf eigenen Mikrolabels oder denen von Freunden und Gleichgesinnten ausgiebig Musik. Ob auf Kassette, CD-R, File oder Schallplatte bei engagierten Labels wie Okraina oder Three:Four Records; ihrer Musik immer eigen ist eine unbefangene Spontanität bei gleichzeitig leidenschaftlicher Ernsthaftigkeit, ganz im Sinne von Eriks Saties Definition des Amateurs. Bislang waren alle ihre Veröffentlichungen Solo- oder Duoaufnahmen, oft entstanden mit seelenverwandten und befreundeten Musikern wie Mocke, Sophie Cooper, Valerie Leclercq, Eloise Decazes und einigen anderen feinen Zeitgenossen. Zuletzt erschien die hervorragende Solo-LP Eudaimon mit Lyrics der außerhalb Großbritanniens kaum auf Aufmerksamkeit gestoßenen Poetin aus Northumberland Kathleen Raine.
Auf ihrem zweiten Album für das Lausanner Label three:four records L’Inattingible singt die auf dem Land lebende Pariserin nun zum ersten Mal auschließlich Songs in ihrer Muttersprache und Lyrics, die sie selbst verfasste. L’Inattingible entstand auch nicht aus dem Stehgreif, sondern über mehrere Jahre mit der Idee von einem Konzeptablum im Kopf. Bemerkenswerterweise zähmte diese Arbeitsweise keinesfalls den ihr innewohnenden wilden Geist. Die durchwegs melancholisch aufgeladene Musik pendelt stilsicher zwischen spirituellen, traumähnlichen, zwischenweltlich-geisterhaften und surrealen Aggregatzuständen. Stimme und Klavier bleiben auch auf dieser Platte, bei der bei jedem Song zahlreiche Gäste mitwirken – von Nau Nau, Aby Vulliamy, Adam Caddell, Gayle Brogan über Valérie Leclercq, Susan Mathews bis zu Paulo Chagas, Sylvia Hallett und Le Fruit Vert – die wichtigsten Gestaltungsmittel für eine gleichzeitig freie wie strenge, immer noch karg auf das Notwendigste reduzierte Musik. Delphine Dora beherrscht meisterhaft, sie prägende oder stimulierende musikalische Stile wie Free Folk, Klavier – und Kammermusik, Drone oder Liedformen oder wegweisende Figuren wie Nico, Brigitte Fontaine, Schubert oder Satie subtil zu zitieren. Die meist kurzen Stücke, bei denen Dora singt, wirken oft etwas windschief an der Harmonie vorbeigehangelt. Bei den anderen rezitiert sie Gedichte, Fragmente und Kurzgeschichten und beschwört eine mysteriöse Atmosphäre herauf, was mich irgendwie an das wunderbare Projekt von Alain Neffe und Nadine Bal Cortex aus den 1980ern denken lässt.

Auf ihre ganz eigene Art wagt sich Delphine Dora auch mit dem zentralen Stück des Albums – dem aus vier Teilen bestehenden und auf der Platte verteilten Lumière Aveugle – in eine abstrakte und wacklig-brüchige Welt der Kammermusik vor.

Brigitte Fontaine wird dieses Jahr 81 Jahre alt! Mit ihrem zu Beginn des Jahres erschienenen neuen Album unterstreicht sie wieder einmal aufs Neue ihren absoluten Sonderstatus, selbst in der an Exzentrik nicht armen experimentellen Künstlerszene von Paris. Ihr anarchistischer Geist muss sowieso nicht extra befeuert werden. Terre Neuve klingt wie eh und je schräg, spleenig, kratzbürstig, weise und künstlerisch absolut auf der Höhe der Zeit. Schon der Titel ihres ersten Albums – Brigitte Fontaine …est folle -, das zusammen mit Jean-Claude Vannier entstand und mit verschiedenen Formen des Chansons experimentierte, gilt sowohl bei den ihr zugeneigten wie sie ablehnenden Musikliebhabern als Blaupause für ihre weitere Karriere, die außer der Musik auch Theater, Literartur und Filmrollen umfasst. Ende der 1960er Jahre lernt sie auch Areski Belkacem kennen, eine künstlerische wie private Verbindung fürs Leben und nimmt mit dem zweiten Album Comme a la Radio, das zusammmen mit dem Art Ensemble Of Chicago eingespielt wird, einen absoluten Meilenstein der experimentellen Musik auf. Neben politischen Aktivitäten veröffentlicht sie mit Areski in den 1970ern und 80ern auf kleinen Labels intime Alben, die mit einer eigenwilligen Mischung aus Chanson, traditioneller nordafrikanischer Musik und Jazz erst zeitversetzt als wichtige Zeugnisse der unabhängigen französischen Untergrund – Chansonszene, deren andere stilprägende Vertreter Catherine Ribeiro (& Alpes) und Albert Marcoeur sind, anerkannt werden.

Nach einem Beitrag für das Projekt Blow-Up von Un Drame Musical Instantané startet sie mit ihrem 1995er – Album Genre Humain und einer Zusammenarbeit mit Etienne Daho musikalisch voll durch: Elektro-Punk und eine aktualisierte Version von Comme A La Radio läßt auch eine jüngere Generation aufhorchen und Madame Fontaine kann ab dann für ihre Alben neben ihrem Weggefährten Areski immer die Creme de la Creme der französischen und internationalen Avantgarde – Rock – Szene gewinnen: Jim O’Rourke, Sonic Youth und Noir Desir für Kékéland (2001), das Gotan Projet und Zebda für Rue Saint Louis en L’ile (2004) oder Katerine und Grace Jones für Prohibition (2009). Im Film von Gustave Kervern Le Grand Soir gibt sie in einer kleinen Nebenrolle sich selbst und die Mutter zweier missratener Söhne (der eine Punk, der andere Spießer), die in der Einkaufscenter-Ödnis einer französichen Kleinstadt die Revolution üben.
Auf Terre Neuve, einem musikalisch spartanischen und ungemein direkten Album, spielt Yan Péchin eine knorztrockene Rock/Punk-Gitarre oder wahlweise den Depro-Blues, ab und an illustriert Areski gekonnt die Stücke zusätzlich mit Streicherarrangements. Brigitte Fontaine haucht, flüstert, schreit, rezitiert und gestaltet mit schwer nikotingeschwängerter Stimme ihre aktuellen Songs. Die Lyrics auf Terre Neuve sind entweder parolenhaft (Je Vous Déteste, Destroy Nihilisme, God Go To Hell…) oder subjektive, ironische oder schlicht poetische Betrachtungen (Vendetta, Les Beaux Animaux, Terre Neuve, Hermaphrodite…) über den Weltenlauf im Allgemeinen und die aktuelle Lage im Besonderen.

three:four records

verycords

Best of 2019

January 6th, 2020

Music

Clothilde – Twitcher (Cassette)


 

Raw Forest – Post Scriptum (Cassette)


 

Carla Dal Forno – Look up Sharp


 

Σωτηρία Λεονάρδου – Δεν Έχω Χρόνο Μάτια Μου


 

Pere Ubu – The Long Goodbye


 

Laurie Spiegel – Unseen Worlds


 

Nilüfer Yanya – Miss Universe


 

Kali Malone – The Sacrificial Code


 

Labrinth – Imagination & the Misfit Kid


 

Sarathy Kowar – More Arriving


 

V.A. – Rembetika – Greek Music From The Underground – 1925-1947


 

Vanity Records – Box Set


 

Sunn o))) – Life Metal


 

The Specials – Encore


 

Kankyo Ongaku – Japanese Ambient Music 1980 – 1990


 

Little Simz – Grey Area


 

Θάνος Μικρούτσικος – Ο σταυρός του νότου


 

Film/TV

Andreas Goldstein – Der Funktionär


 

 Bong Joon Ho – Parasite


 

Bertrand Bonello – Zombi Child


 

Ori Elon, Yehonatan Indursky – Shtisel


 

Ladj Li – Les Misérables


 

Craig Mazin – Chernobyl


 

Pedro Costa – Vitalina Varela


 

Babis Makridis – Pity


 

Romain Laguna – Les Météorites


 

Alec Berg, Bill Hader – Barry, S.2


 

Mati Diop – Atlantics


 

Sam Levinson – Euphoria


 

Kazuya Shiraishi – Dare To Stop Us


 

Ronan Bennett – Top Boy, S.2


 

Kosai Sekine – Love At Least


 

Davey Holmes – Get Shorty


 

Christian Petzold – Transit


 

Hirobumi Watanabe – Life Finds A Way


 

Jordan Peele – Us


 

Books

Luc Boltanski – Bereicherung


 

Yuval Noah Harari – Homo Deus: A Brief History of Tomorrow


 

Martin Sonneborn – Herr Sonneborn geht nach Brüssel


 

 Yanis Varoufakis – Adults in the Room: My Battle with Europe’s Deep Establishment


 

Han Kang – Die Vegetariererin


 

Maria Judite De Carvalho – Obras Completas


 

Hermann L. Gremliza – Haupt- und Nebensätze


 

Νίκος Δήμου – Η Δυστυχία του να είσαι Έλληνας


 

Simon Hughes – There She Goes


 

Benjamin Piekut – Henry Cow, The World Is A Problem


 

Darren Ambrose – K-punk: The Collected and Unpublished Writings of Mark Fisher


 

Martha Wells – All systems red


 

Nicolas Mathieu – Leurs Enfants Après eux / Wie später ihre Kinder


 

Carolyn Burke – Lee Miller, A Life


 

Daniel Kahneman – Thinking, Fast and Slow


 

Titanic – Das Endgültige Titelbuch / 40 Jahre


 

 

 

Ripples

November 9th, 2019

Pere Ubu – The Long Goodbye

Beim Méteo Festival in Mulhouse im August 2017 kommt David Thomas unsicher und mit Stock auf die Bühne und bestreitet das ganze Konzert auf einem Stuhl sitzend. Im Publikum ist jedem klar, dass es um die Gesundheit des Meisters nicht gut bestellt ist. Der Auftritt ist trotzdem energetisch und von gewohnter Perfektion und Professionalität. 20 Years In A Montana Silo, das damals aktuelle Album, darf als wütend-beißende Reaktion auf die USA Today interpretiert werden und verfeinert nochmals die Affinitäten der späten Pere Ubu: schräger Garagenrock mit einem psychdelischen Einschlag, fragile Balladen und Soundexperimente.
Danach, auf der ausgedehnten US-Tournee, wird David Thomas dann tatsächlich mit einem lebensbedrohlichen Zustand in ein Krankenhaus eingeliefert und die Genesungsprognosen sind äußerst vage.
Nichtsdestotrotz wird Thomas nach Hause entlassen und ist in der Lage, in seinem Studio an neuem Material zu arbeiten; seine Art der Rehabilation. Für die Komplettierung der Songs lädt er die Bandmitglieder und einige Gäste ein. The Long Goodbye, frei nach Chandler, einem der Säulenheiligen Thomas, wird ein lyrisch ausgefeiltes und kurzgeschichtenartig aufgebautes Album und soll ein würdigs Schlußzeichen zu der über vierzigjährigen Bandgeschichte setzen.
Dann aber verbessert sich der gesundheitliche Zustand Thomas’ soweit, dass an eine Präsentation vor Publikum gedacht werden kann.
The Long Goodbye ist nicht nur aufgrund der schwierigen Bedingungen, unter denen das Album entstanden ist, einer der Höhepunkte im langen Schaffen der Band.
Einerseits knüpft es an die sympathisch-verschrobenen, introspektiven Solo-Alben der 1980er an; Monster Walks The Winter Lake und Blame The Messenger kommen einem da in den Sinn. Bekanntlich legte Pere Ubu damals eine Schaffenspause ein und David Thomas umgab sich mit Musikern aus dem Jazz – und Recommended Records-Umfeld; eine seiner kreativsten Phasen. Marlowe, das von einem Akkordeon begleitete Lovely Day oder Skidrow-On-Sea fallen unter diese Kategorie.
Dann gibt es die schrägen Rock- und gar sinistren “Technonummern” (What I Heard On The Pop Radio, Flicking Cigarettes At The Sun), in der Art wie man sie von den letzten Alben kennt, in denen ein treibender Beat auf schrille Synthesizer und die noch schrillere Stimme trifft.
Songs wie Road Is A Preacher und The World (As We Can Know It) liegen dazwischen und lassen Thomas’ Gabe, Texte zwischen surrealen, magischen Momenten und trockenem Humor zu schreiben, zur Geltung kommen. Bei Who Stole the Signpost? spielt im Background eine schöne Klarinettenmelodie über einem dichten, zerfahrenen Klangteppich, fast schon eine futuristische Fusion von Elektronik, Rock und Ballade, und David Thomas erzählt dessen unbeeindruckt in Spoken Word-Manier von den persönlichen und globalen Katastrophen.

http://www.ubuprojex.com

 

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October 22nd, 2019

 

Outfest 2019: Festival Internacional De Música Exploratório Do Barreiro

1994 ist Lissabon Europäische Kulturhauptstadt. Kurz zuvor werden auch das Centro Cultural de Belem und das Culturgest eröffnet. Dort entstehen Laboratorien für die zeigenössichen Künste und die Stadt legt nach und nach das verstaubte Image ab, nur Anlaufpunkt für Nostalgiker zu sein, die sich an der aus der Zeit gefallenen Atmosphäre berauschen. Auch im Jahr 1994 gründet eine handvoll Enthusiasten aus der Alternativkultur im damaligen Ausgehviertel Nummer Eins – Bairro Alto – das Zé Dos Bois (ZDB). In einem Interview mit der Tageszeitung Público blickt Naxto Checa, seines Zeichens künstlerischer Leiter, auf das Vierteljahrhundert zurück und erklärt warum das ZDB mit seiner partizipativen Mitarbeiterstruktur den krassen Wandel des Quatiers, hin zu einer Dienstleistungs- und Vergnügungsgesellschaft, und die schroffen finanziellen Kürzungen im Kultursektor sogar gestärkt bewältigte.
In Portugal existieren nicht viele Plattformen wie das ZDB, das sowohl auf lokale wie globale Tendenzen in der Kultur reagiert und Raum bietet für die Avantgarde, sei es in der Musik, der Kunst, dem Film oder dem Theater. Checa unterstreicht, dass sich auch die Beziehung von Produktion und Künstler verändert habe und es zu fruchtbaren Zusammenarbeiten bei der Realisierung komme und Starallüren obsolet sind. Künstlern wie Dirty Beaches, Grouper und einigen anderen wurde eine Künstlerresidenz offeriert. Daneben wurden Platten von Loosers, Grouper oder Gabirel Fernandini produziert. Die sehr aktive Jazz- und Improvisationsszene von Portugals Hauptstadt gibt sich im Aquarium, dem Konzertraum des ZDB, praktisch die Klinke in die Hand. Schon vor dem großen Immobilienboom konnte die Equipe des ZDB, nachdem man bei der Gründung einen monatlichen Mitgliedsbeitrag festgelegt hatte und damit einen kleinen Raum gemietet hatte, schließlich das heruntergekommene Gebäude in der Nähe, in der Rua de São Paulo, dem ehemaligen Palácio Baronesa de Almeida, kaufen und nach und nach renovieren, so daß man nun trotz gekürzter städtischer Zuschüsse überleben kann.

Über dem Fluss in der sich gerade neu erfindenden Industrie- und Hafenstadt Barreiro sorgt ein anderes Veranstaltungskollektiv dafür, dass die mittelgroße Stadt mit seinen beeindruckenden Gebäuden und der Arbeiterstadtatmosphäre auch als Ort für Undergroundmusik wahrgenommen wird und damit auch kulturell wieder aus seinem Dornröschenschlaf erwacht: Die Assoçiação Cultural Out.Ra.
In verschiedenen Institutionen wie der städtischen Bibliothek oder der Musikschule finden während des Jahres immer wieder herausfordernde Veranstaltungen statt, die auch Zuhörer jenseits des Tejo anziehen. Der Höhepunkt bleibt selbstredend das jeweils im Oktober stattfindende Outfest.

Sechsundzwanzig Konzerte an drei Tagen von Künstlern aus Portugal, Brasilien, Spanien, den USA, Irland, England, Dänemark Schweden, Finnland, Ägypten und Tanzania in ungewöhnlichen Spielstädten, die auch einen wichtigen Teil der Stadtgeschichte repräsentatieren, standen auf dem Programm der sechszehnten Ausgabe: Genres wie Jazz, Rock, Hip Hop, Noise, Punk, Electronica oder Neue Musik vermischen sich und die Grenzen verblassen, so das erklärte Anliegen der Veranstalter.
Am Donnerstag Abend konnte man schon Gabriel Ferrandini mit der Camerata Musicial do Barreiro und Peter Evans in der Igreja Paroquial de Santo André bei intimen Konzerten beiwohnen. Der eigentliche Startschuss des Festivals erfolgte dann am Freitag in einer anderen Kirche, der barocken Igreja da nossa Senhora Rosário: Kali Maloni, die seit längerm in Schweden residierende junge Amerikanerin, die über einem Background von klassischem Gesang und Gitarre zum Orgelspiel fand, improvisierte im ersten Teil ihres außergewöhnlichen Konzertes auf dem Hausinstrument. Im zweiten Part beschallte Malone die Kirche mit ihren, auch hinsichtlich des Lautstärkepegels herausfordernden psychedelisch irrwandelnden Dronegebilden. Meditativ, ohne sich im Raster der Minimal-Music von ähnlich veranlagten Zeitgenossen zu verfangen, erlebte man schon einen der Höhepunkte des Festivals. Oszillierend, dunkel und in ungewöhnliche Richtungen ausbrechend, ist ihre Musik live noch intensiver als z.B. auf ihrem diesjährigen Album The Sacrified Code.

Anschließend fanden sich alle im ADAO, einem ehemaligen Feuerwehrhaus, unweit der Fährestation, das zu einer Künstlerenklava umgewandelt wurde, ein.
Calhau! fühlten sich in dieser Umgebung bestens aufgehoben, kommt doch das Duo aus Porto, das u.a. ein herausragendes Album auf Kraak veröffentlichte, ursprünglich aus der Kunst und ihr musikalischer Output spielt immer mit einer völlig eigenständigen Mixtur aus Sound, Sprache, Performance und Collage. Man fühlt sich angenehmerweise an DDAA erinnert, die eine vergleichbar freie Auffassung von Kunst vertreten. Thematisch arbeiten sich Marta und João aber immer wieder an der katholischen Kirche und anderen kultischen Riten ab. Mit diversen Alltagsgegenständen und tönenden Kunstwerken Marke Eigenbau war auch dieser Auftritt wieder völlig einzigartig. Intensiver Lärm, zerstückelte Wortfetzen, die durch einen akustisch verstärkten Abwasserschlauch gejagt werden und eine am Rande platzierte Pianistin, die die eine oder andere spärliche, aber prägnante, Einlage miteinstreute, lassen einen etwas ratlos, aber intellektuell beflügelt zurück.

Alpha Maid, aka Leisha Thomas & Band aus London, bringen dann das Tanzbein in Schwung, und das selbstverständlich auch mit einer eklektischen Dosis an eigentlich Unvereinbarem: Big Black, Mica Levi, Raster Notion, Mego oder gar Neue Deutsche Welle werden von Thomas als Referenzpunkte genannt und alles tönt zugleich groovig wie zerschreddert. Ilpo Väisänen, ohne seinen verstorbenen Panasonic-Kollegen, auf Solopfaden unterwegs, gab sich anschließend mit einem reduziert, knochig-trockenen Auftritt die Ehre.
Die nicht gerade subtil agierenden Brasilianer von Deaf Kids mit einer Fusion aus Punk, Metall und tribalistischen Elementen waren nicht meine Tasse Tee, dafür sorgte dann das schräge Duo von Tochter und Vater aus Newcastle Yeah You mit einer eigenwilligen Fusion von Home Made Throbbing Gristler und Hip Hop für bloßes Erstaunen.
MCZO und Duke, all the way from Tanzania, legten anschließend einen DJ-Set hin, während ich mich auf die Nachtfähre nach Lissabon begab.
Am Samstag galt es dann, da mehrere Veranstaltungen parallel liefen, die richtigen Entscheidungen zu treffen bzw. in sich zu gehen und den eigenen Affinitäten zu folgen. In der restaurierten Moinho Pequeno, mit Blick auf die Feuchtgebiete und das Meer der Stadt, gab es ein Stelldichein der jungen experimentellen portugiesischen Szene. Bezbog, David Machado (Klarinette, Elektronik etc. ) und Dora Vieira (Melodika, Elektronik etc.)
aus Porto und eng mit dem pulsierenden Kassetten – und CDR-Label Favela Discos verbandelt, machten den Auftakt. Zwischen Obertonmusik, Field Recordings, Free Jazz, Noise und punkigen Ausbrüchen erzeugten sie mit einer höchst eigenwilligen Auswahl an Klangerzeugern ein fesselnde Verbindung aus Stille und Krach, Reduktion und Überschwang. Erstaunlich wie abgeklärt und innovativ die Musik der beiden jungen Musiker schon ist.
Luar Domatrix ist das Projekt von Rodolfo Brito, der einen Hälfte von Yong Yong, einem Duo, das sich zwischenzeitlich in Glasgow niedergelassen hatte und zwei Platten auf dem dortigen Night School – Label veröffentlichte. Brito auf Solopfaden schloss sich mit dem Discrepant – Label kurz, ein weiteres Projekt eines Exil-Portugiesen: Gonçalo F. Cardoso. Er komponiert nun eine weitaus dunklere Musik, die an verschiedene Pioniere des verkopften Industrials – Zoviet France, Nocturnal Emissions etc. – anknüpft und eine subitle exotische Ethno-Note miteinfließen lässt. Die junge Flötistin Violeta Azevedo öffnete die großen verglasten Türen und ließ das Rauschen des Meeres und das Summen der Insekten und Vögel in den zum Konzertsaal umfunktionierten Raum der Mühle hinein. Ihre Musik passt da auch zu gut zum Ambiente. Federleicht ihre Musik, Eno, Delia Derbyshire oder die Kranky-Szene, bekundet die Musikerin, seien wichtige Einflüsse.

Im Teatro Municipal traten das dänische Duo Bryne und die angeblich etwas geheimnisumwobenen Candura aus der Hauptstadt auf, während in der Biblioteca Municipal gleichzeitig ein weiterer Höhepunkt des Festials vonstatten ging: Keith Fullerton-Whitman, sicherlich einer der geschultesten und hellsten Köpfe der elektronischen Avantgarde, tat sich für dieses Auftragsprojekt mit den einheimischen Musikern André Gonçalves, Clothilde und Simão Simões zusammen. Sie setzten den Saal der Bibliothek in eine sanfte Schwingung und führten die Zuhörer auf Abwege durch ihr musikalisch bezauberndes Labyrinth.
Als eine ähnlich veranlagte Künstlerin darf man Magarida Magalhães aka Raw Forest bezeichnen, die ihre gleichermaßen komplex und leicht wirkende Musik, die Ambient als Gegenteil von Minimal auffasst und den Geist Brian Enos mit Cutting Edge Electronica von heute in Verbindung bringt, im Foyer der Bibliothek, präsentierte. Ihre hervorragende Kassette “Post Scriptum” auf dem Labareda Label, einem weiteren wichtigen Mosaikstein der jungen portugiesischen Undergroundszene, gehört zu den Höhepunkten 2019.
Auf dem Marktplatz vermischten sich dann Festivalgänger zwanglos mit zufällig Vorbeikommenden und denjenigen, die den Samstagnachmittag auf dem zentralen Platz mit seinem anschließenden Park genießen. Chão Maior und Davy Kehoe beglügelten zwar nicht zum großen Tanzevent, aber das eine oder andere Wippen war doch zu verzeichnen.
Der große Veranstaltungssaal SIRB und die im Foyer beheimatete grandiose Bar Os Penicheiros war die angemessene Örtlichkeit für den Publikumsandrang am Samstagabend.
James Ferraro, der Konzeptkünstler des Hypnagogoc Pop, ist in letzter Zeit etwas aus dem Fokus verschwunden, während Zeitgenossen wie Daniel Lopatin oder Laurel Halo das Zepter übernommen haben. Die Gründe dafür, könnten sich, nähme man seinen Auftritt als Maßstab, leicht erklären lassen. In permanentem Kunstnebel gehüllt, wirkte seine aktuelle Musik in erster Linie gnadenlos bombastisch und, käme da nicht modernstes Computerequipment zum Einsatz, wie aus einer Zeit, in der ELP, Yes und Jean Michel Jarré uns den Spaß an der elektronischen Musik vergällten. Leider, so das subjektive Fazit, eine redundante Angelegenheit.

Ganz anders da die kettenrauchende und auch ansonsten äußerst agile Ägypterin Nadah El Shazly, die mit ihrer Band eine nahezu perfekte Show und einen Überblick ihrer vertrackten Musik bot. Eine Musik, die mühelos und ohne mit der Wimper zu zucken von der traditionellen Songform zum Free Jazz, vom brüchigen Avantgarde Rock zur kakafonischen Elektronik, vom meditativen Drone zum schroffen Aufschrei wechseln kann. Auch das Instrumentarium vereint verschiedene Welten. Flöten, Oud treffen da auf Kontrabass, Keyboard und Computer. Wichtigstes Element ist aber selbstredend Nadah El Shazlys variationsreiche Gesangskunst, die trotz den traditionellen Bezugspunkten eher von einem Punk-Spirit beseelt scheint und sich in keinster Weise in den World Music- oder Jazzgenres pressen lässt.

El Shazly ist eine wichtige Schlüsselfigur des musikalischen Undergrounds in Kairo, der trotz Einschüchterung scheinbar prächtig gedeiht. Sam Shalabi, der Gitarrist der Band, und Alan Bishop von den Sun City Girls sind ebenfalls in den vergangenen Jahren wichtige Botschafter gewesen, um auch auf eine moderne, freidenkende Seite der arabischen Kultur aufmerksam zu machen.
Die New Yorker Hip Hop-Veteranen Dälek und aka Still folgten dem Auftritt El Shazlys mit Dancefloor-tauglichem Stoff, bevor es dann für die immer noch Tanzwütigen ins Edifício A 4 an den Tejo ging, wo diverse DJ-Sets die Stunden, die von der Nacht übrigblieben, beschallten.