Phew
September 11th, 2017
Phew – Pass No Past
Für die japanische Sängerin und Musikerin Phew sind lange Perioden des künstlerisch öffentlich nicht ‘In – Erscheinung – Tretens ‘ nichts Außergewöhnliches.
Momentan kann man sich aber gerade wieder an regelmäßigeren Lebenszeichen erfreuen. Mit dem Solo-Album A New World und der gerade erschienenen Kompilation von home recordings Light Sleep schlägt Phew zudem auch wieder eine neue musikalische Richtung ein, die – analoge Elektronik und Stimmexperimente verbindend – zu den aufregensten Ergebnissen ihres Schaffens führt: weitgehendst instrumentale Musik; ungemein dichte Kompositionen, die sich vom meisten Vergleichbaren in Qualität und Konsequenz abheben. Auch scheint sich Phew nun als Solokünstlerin, die ihre Musik alleine in langen Jamssessions entstehen lässt, zu definieren. Die erste Platte – Aunt Sally – erschien 1979; es hat also etwas gedauert.
Phew @ Walcheturm Zurich
Man kann Phew darüber hinaus auch dieses Jahr vereinzelt auf europäischen Bühnen sehen.
Von einem Programm wie dem des Cave 12 in Genf kann man in anderen Städten dieser Größe wohl nur träumen. Die kleine Crew, die sich dem musikalisch Abseitigen widmet, musste über die Jahre mehrmals umziehen, aber jetzt, unmittelbar neben einer Tiefgarage in Servette lokalisiert, scheint man den idealen Ort gefunden zu haben. Man muss nun wohl auch nicht mehr befürchten, wegen Ruhestörung belangt zu werden. Es finden vielleicht 100 Zuschauer zwischen der kleinen Bühne, der Bar, einem Plattenstand und Sofa Platz.
Eine kurze Verbeugung, dann stellt Phew die elektronischen Unikate auf dem Tisch vor sich auf “on” und katapultiert die Zuhörer in ein Paralleluniversum, aus dem sie für eine Stunde niemanden entkommen läßt.
Verspielt und nervig grooven und klimpern piepsige, vermeintlich billige achziger Jahre – Computerspiele, die sich mit Martin Rev’schen Minimalismus paaren die Tonleiter hoch und runter. Darüber legt Phew nach und nach einen schweren, dunklen Mantel Klangmaterie. Gegen Widerstände, die wie starke Gegenwinde das Fortkommen erschweren, kämpft man sich durch den klanglichen outer/inner space. Schichten legen sich über Schichten und die hin und wieder durchscheinende Stimme Phews trägt einen, durch diese Verlorenheit und Einsamkeit ausstrahlende Raum – und Zeitlosigkeit. Tief, brodelnd und zerbrechlich, aber andererseits messerscharf ist Phews Musik, der kein Prozent von Hippietum innewohnt. Hier haben wir es mit Sci-Fi-Punk zu tun, andersweitige/weltliche Musik, die von einer Meisterin ihres Fachs gestaltet wird. Keine Schönheit ohne Gefahr, das zumindest suggeriert diese nicht fass- und einsortierbare Musik immer wieder aufs Neue. Man kann sich fallen lassen, aber wehe dem. Zum Finale, wenn die Atari-Riots abebnen und die Schlaufen der Elektronik für einen kurzen Moment einer kurzen, zarten Gesangsmelodie weichen, bevor der Gerätepark, der bei Phew nur als Mittel zum Zweck genutzt wird, dann ganz abgeschaltet wird, werden wir, etwas sprach- und ratlos, in die Realität zurückversetzt.
Phews Stimme – für japanische Ohren zu tief, was noch in den Achzigern so etwas wie ein Skandal auslösen konnte und scheinbar jeglichen Affekt/Effekt vermeidend – ist gleichwohl ihr wiedererkennbares Markenzeichen. Im Gegensatz zu vielen anderen Sprachen ist es schwer in der japanischen Sprache zu singen, die abgeflacht und wenig akzenturiert klingt. Will man nicht in das Kindliche vieler J-Pop-Stars verfallen, muss man nach anderen Lösungen suchen und sich positionieren.
Eine vielleicht typisch Geschichte, die so nur in Nippon stattfinden kann: Als der Teenager Hiromi Moritani aus Osaka, der sich wenig später den Künstlernamen Phew zulegen wird, die Sex Pistols im heimischen Fernsehen sieht, ist es um ihn geschehen. Dann aber – und das macht die Geschichte zu einer japanischen – kauft sich die 17-Jährige nicht nur die ersten Singles, sondern fliegt kurzerhand alleine nach London, sieht McLarens Konzeptband live, kehrt in ihre Heimatstadt zurück und gründet mit ihrer Bekannten Bikke die erste von jungen Frauen dominierte Punkband in Japan. Die damit einhergehende Haltung und Kompromisslogikeit in Bezug auf ihre künstlerische Freiheit, auch wenn es später um Karrierechancen im Musikbusiness gehen soll, wird sie nie mehr ablegen.
Das Album von Aunt Sally wird 1978 aufgenommen und erscheint 1979. Von Keyboards, Gitarre und natürlich der Stimme Phews geprägt, beschwört die Platte nicht den Old-School-Punk, orientiert sich eher an Bands wie den Slits, Delta 5 und Post-Punk im allgemeinen. Live covert die Band auch einschlägige Songs und macht sie zu etwas Eigenem. Kurz nach diesem Ausrufezeichen für die japanische Gegenkultur löst sie die Band aber schon wieder auf. Punk ist für Phew nach dem Ende der Sex Pistols Schnee von gestern. Sie schlägt eine andere Richtung ein: Zuerst nimmt sie mit dem schon damals Superstarstatus genießenden Ryuichi Sakamoto eine Single auf (Finale), um sich danach auf die Musik zu konzentrieren, die sie schon vor der Punk-Explosion hört: Kraftwerk und Can. Vor allem Future Days von Can ist für Phew eine essentielle Platte.
Ähnlich spontan wie ihr London-Trip fliegt sie nach Deutschland, um im Studio von Conny Plank mit Holger Czukay und Jaki Liebezeit (all R.I.P.) ihr Solo-Debut-Album einzuspielen. Wie sie in einem raren Interview mit dem The Wire-Magazin erzählt, ist sie von der Professionalität und Bescheidenheit der Musiker – ganz im Gegensatz zur japanischen Szene (sic) – beeindruckt. Ohne Stücke konkret vorbereitet zu haben, habe sie in diesem Umfeld das Jammen und Improvisieren gelernt. Das Ergebnis ist beeindruckend. Trotz den großen Namen ist es die starke Präzenz Phews, die die Songs trägt. Mit Doze, Aqua oder Circuit findet man einige Klassiker auf dem Album. (Die Geschichte der europäischen Veröffentlichung dieses Meilensteins findet sich hier)
1991 sollte sie nochmals in Deutschland aufnehmen. Our Likeness – wieder mit Jaki Liebezeit und – diesesmal – A. Hacke von den Neubauten, T. Stern und Chrislo Haas eingespielt, fällt gegenüber dem Debut etwas ab, aber die Art wie Haas Musik live komponiert ohne sein Ego in den Vordergrund zu stellen oder sich zu verlieren, übt einen großen Einfluss auf Phew aus.
Zwischen den beiden deutschen Platten entsteht 1987 mit japanischen Musikern das Album View: Unterkühlte Balladen wechseln sich mit schneidend-punkigen Elektrosongs ab.
Danach scheint sich die Karriere von Phew zu verflüchtigen, obwohl sie in Tokio einen sagenumwobenden Kultstatus besitzt. Zu verzettelt und unkoordiniert ist die japanische Indie-Szene zu dieser Zeit, nicht einfach sich zwischen Hype und Substanz zu entscheiden. Und Phew, noch keine 25 Jahre alt, bleibt ohnehin eine Außenseiterin in Tokio.
Nach einer langen Veröffentlichungspause beginnt sie in den 1990ern einerseits mit unterschiedlich ausgerichteten Musikern zusammenzuarbeiten und veröffentlicht aber auch eine sehr persönliche und von intensiven Songs geprägte EP, die sie kreativ die Ideen der 1980er-Trilogie aufgreifend, in bester Verfassung und reifer präsentiert. Mit dem in New York ebenfalls Kultstatus genießenden Schlagzeuger Anton Fier kommen zwei Platten (Dreamspeed, Blind Light) zustande: Phews Sprechgesang wird mit dem dunklen Knitting Factory – typischen Sound von Fier, Bill Laswell und co unterfüttert.
Phew beteiligt sich in Tokio an Großproduktionen von Otomo Yoshihide (New Jazz Ensemble Dreams – großartiges Album – wo sie sich die Vocals mit Togawa Jun teilt und The Music of Takeo Yamashita).
Mit den beiden Avantgarde-Rockbands um Otomo Yohihide Novo Tono und Himitsu No Knife/Secret Knife nimmt sie zwei – mittlerweile vergriffene und sehr gesuchte – Platten auf und beinfidet sich für einem Moment im Mittelpunkt des tokioter Avantgardeuniversums. Mit dem (Boredoms-) Gitarristen Sei-Ichi Yamamoto wiederum setzt sie mit – Shiawase no-sumika, das wie eine subtile Hommage an den J-Pop klingt einen Kontrapunkt. Mit Yamamoto und der Band Most bezieht sie sich auf mittlerweile drei Alben nochmals musikalisch auf Punk : vorwärtstreibende, direkte kurze Songs, die eine Seite von Phew zeigen, die man so noch nicht kennt.
Big Picture ist ein Album, das 2001 mit Nagashima Hiroyuki und einigen Gästen entsteht und zu den wichtigen Veröffentlichungen in der Diskographie Phews zählt. Samples aus diversen Quellen sind Ausgangsmaterial, um eine eigenwillige Popplatte zu entwicklen, die Gesang, Noise mit Versatzstücken aus J-Pop, Bossa Nova, Folk, Chanson, Beats und Noise mischen.
Danach kommt es wieder zu einer “Ruhephase”.
Five Finger Discount – mit der eingespielten Band um Jim O’Rourke – aufgenommen, lässt 2010 wieder mit einer Songssammlung aufhorchen.
Zusammen mit der Autorin und Mangskünstlerin Erika Kobayashi reagiert Phew auf die Katastrophe von Fukushima auf künstlerische Art. Als Projekt UNDARK illustrieren sie zur Musik von Dieter Moebius (Cluster; nochmals eine Deutschland-Connection) die Geschichte der sogenannten Radium Girls (Radium Girls 2011). Diese waren Fabrikarbeiterinnen in New Jersey, die um 1917 durch eine leuchtende Farbe namens Undark, die in der Zusammensetzung mit Radium versetzt war, vergiftet wurden. Fünf Arbeiterinnen brachten dann ihren Arbeitgeber vor Gericht und erstritten sich ein Grundsatzurteil, das seitdem Arbeitern zugesteht, bei bei der Arbeit erworbenen Krankheiten zu klagen. Wieviel von den ca. 4000 Arbeitern, die mit der Farbe arbeiteten, erkrankten, ist allerdings nicht bekannt.
Phew on bandcamp:
Liverpool – The Pool of Life Part 2
August 13th, 2017
Eric’s, Urban Decay, Writing On The Wall
Als Roger Eagle im Oktober 1976 mit Ken Testi den Club Eric’s eröffnete (später kam Pete Fulwell dazu), war noch nicht abzusehen, welchen Einfluss – nicht nur auf die Mersey-Side-Szene – das Kellerlokal in der Historie des Punks- und Postpunks haben sollte.
Eigentlich Süd-Engländer, machte sich Eagle in Manchester in den frühen sechzigern Jahren des letzten Jahrhunderts einen Namen als DJ und bekam die Entwicklung des Northern Soul hautnah mit. Er vermittelte dann auch Bands – unter anderem für die Konzerthalle The Stadium in Liverpool – und produzierte eines der ersten Musikfanzines überhaupt, namens The Last Trumpet. Eagle zog dann selbst an den Mersey und beeinflusste die dortige Szene nachhaltig. Als großer Reaggaefan und – Kenner sah er die Verbindung zur aufkommenden Punk/New Wave-Explosion, die in Liverpool auch noch mit den Einflüssen aus der eigenen Vergangenheit und denen, die in die Hafenstadt von außen hineingetragen wurden, gekoppelt war, voraus. Etwas außerhalb des Stadtzentrum, in den Straßen um den Sefton-Park, lebte die Bohème das Leben des Künstlerdaseins und verfolgte einen ganz anderen Lebensentwurf als diejenigen, die in den harten Innercitystreets sozusagen um das eigene Überleben kämpften.
Die Mathew-Street im Herzen Liverpools ist unweigerlich und für alle Zeit mit The Cavern, den Fab Four und dem Mersey-Beat verknüpft. In den siebziger Jahren gab es dort aber auch andere Anlaufpunkte wie z.B. das von einigen Freunden in einer ehemaligen Lagerhalle, die den alternativen Markt Aunt Twackers beherbergte, ins Leben gerufene kreativ-unkommerzielle Zentrum namens The Liverpool School of Language, Music, Dance & Pun: Dabei handelte es sich um eine geniale Mischung aus Art School und Teestube, wo sich die späteren Protagonisten des Liverpool New Waves die Zeit vertreiben und über waghalsige Projekte fabulieren konnten. Dies war ein sehr “freier” Ort, es konnte alles oder nichts geschehen, große Pläne ausgeheckt und verworfen werden. Man bewarb sich für ein Stipendium und studierte Theater, Musik oder Film, und, konnte die Zeit entweder verträumen oder die Welt verändern.
Carl Gustav Jung beschrieb in einem seiner esoterisch-mysthischen Traumprotokolle die Stadt Liverpool. Obwohl er nie dort gewesen war, schienen die Details der Straßenbeschreibungen genau auf die Stadt im allgemeinen und die Mathew Street – Gegend im Speziellen zuzutreffen. Dazu die detailiert geschilderte Atmosphäre einer nassen Nacht: Düster, dreckig, heruntergekommen; die Stimmung einer Stadt mit großem Hafen im Niedergang, die nur zugut das tatsächliche Liverpool in den siebzigern Jahren zu beschreiben schien. Nur die eigene Kreativität hatte man da gegen das Siechtum entgegenzusetzen. Kurzerhand riefen einige der in der Liverpool School of Language, Music, Dance & Pun Abhängenden ein Jung Festival aus. Der Bürgermeister von Zürich wurde eingeladen (und kam!), und ein holprig-improvisiertes Programm mit Livebands in der Straße und schrägen, anarchischen Darbietungen wurde aufgeführt. Auch fuhren zwei Kunststudenten im Vorfeld mit dem Auto von Liverpool nach Basel, um von Jung persönlich einen Stein, der ursprünglich für den Bau eines Turms auf dessen Grundstück dienen sollte, entgegenzunehmen und nach Liverpool zu transportieren, mit dem Text von Jungs Liverpool-Traum bearbeiten zu lassen und beim Festival zu präsentieren. Der Stein wurde dann in eine Wand eingesetzt.
Ebenfalls in der Mathew Street eröffneten Geoff und Annie Davies 1976, nachdem sie schon seit 1971 in einer anderen Gegend der Stadt aktiv gewesen waren, den Probe Records Shop, der, eng verbunden mit der aufblühenden Szene um Eric’s ein gleichermaßen eklektisches Sortiment anbot und großen Einfluss ausüben sollte. Später kam das Label hinzu – Half Man Half Biscuit wurde zu treuen Hausband. Über die Jahre musste der Laden mehrmals umziehen und trotzdem existiert Probe auch heute noch; nun in unmittelbarer Nachbarshaft zum Blue Coat, einem der ältesten Kulturoasen von ganz Großbritannien.
Zwischen Oktober 1976 und der überraschenden Schließung nach einem ominösen Polizeieinsatz im März 1980 (wobei manche Eingeweihten behaupteten, der eigenliche Grund für die Aufgabe des Clubs wäre finanzieller Natur gewesen, da der enge Kreis der 50 treuen Stammgäste die Ausgaben langfristig nicht decken konnte) war Roger Eagles Eric’s stilprägend und einzigartig. Früher ging man in die Disco, ein Musikclub mit einem ausgesuchten Programm zwischen Punk, New Wave, Reaggae oder aber auch Jazz hatte zuvor keine Vorläufer, geschweige denn Tradition. Auch das Zusammenführen von lokalen mit bekannteren, wegweisenden Bands war etwas Neues und wirkte in Liverpool als Initialzündung für Leute wie Jayne Casey, Pete Burns, Mike Badger, Bill Drummond, Julian Cope, Ian McCulloch oder Pete Wylie, die dort abhingen, von Eagle zum Musikmachen animiert wurden und dann später tatsächlich oft selbst auf der Bühne standen.
In der Stadt war in dieser Zeit die Stimmung eine desperate und angespannte: der Niedergang der Docks und anderer Industrien wirkte sich krass aus. Massenarbeitslogikeit, Streiks, extreme Armut, Verwahrlosung waren die Folge, aber auch Widerstand und Solidarität waren in der Stadt zu spüren. Ein Jahr später, 1981 im Juni, sollten die Toxteth – Riots die Stadt nochmals radikal verändern ; die Auswirkungen sollten bis nach Brixton und Birmingham ausstrahlen. Gleichzeitig bewirkten die Missstände auch eine enorm kreative und unkonventionelle Reaktion, die von der Musik- bis zur Modeszene reichte. Thatcher erfand als Gegenmittel, sowohl des Aufbegehrens wie auch der damit einhergehenden Anarchie und Solidarität, den Posten des “Special Minister” und besetzte diesen mit Michael Heseltine, der, “too little too late” auf Tourismus, Wiederaufbau und Freizeitangebote als Gegenmittel zur allgemeinen Verarmung der Bevölkerung setzte und mit allen Mitteln versuchte, den Widerstand zu brechen.
2011 wurde an gleicher Stelle in der Mathew Street Eric’s neueröffnet und kurze Zeit wieder geschlossen. Obwohl die wirtschaftliche Situation – nach einem vermeintlichen Aufschwung, befeuert durch Immobilien und Billigjobs – in Zeiten des Austeritätsprogramms beinahe wieder vergleichbar mit jener in den Siebzigern war (und ist) und die Reaktionen mit dem Sprießen von DIY-Shops und alternativen Versuchen abseits des Hipstertums spürbar ist, hatte die Neuauflage außer dem Namen keine Relevanz. Die Schnittstellen derjenigen, die etwas zur prekären Lage zu sagen haben, sind nun anderswo in der Stadt zu finden.
Liverpool 8 und andere Orte
Auch in Toxteth, Liverpool 8 – unter diese Postleitzahl fällt übrigens nicht nur Toxteth, sondern auch der Queens Park und ein Teil des Georgian Quarters – hat sich vieles verändert, aber manche Grundprobleme eben nicht: Immer noch stößt man allerorts auf Brachflächen, Verwahrlosung und Missstände, aber die Einwohner entwerfen wie eh und jeh Gegenmodelle wie z.B. Urban Gardening-Projekte oder unkommerzielle Treffpunkte. Von Gentifizierung kann man noch kaum reden, aber wer weiß was die Zukunft bringen wird. Was die sozialen Brennpunkte anbelangt, gibt es jedenfalls weit prekärere Viertel in der Stadt wie Norris Green oder Croxteth am Stadtrand oder Kensington, nicht weit von der Universität entfernt.
Von den Everton Heights, vor einigen Jahren runderneuert und mit feinen Gartenanlagen versehen, die maroden Tower Blocks aus den Sechzigern zum größtein Teil niedergewalzt, hat man den besten Blick auf den River Mersey und die sich ständig erweiterende und verdichtende Sky-Line der Innenstadt. Neben den Three Grands kann man immer mehr Glastürme und Hochhäuser ausmachen, rechts sieht man wie der Fluß in die Irische See mündet und auf die Windränder der ausgebluteten Docks von Bootle. Everton, Walton und Anfield gehören zu den ärmsten Vierteln der Stadt, trotz allem Fußballreichtum und dem ebenfalls renovierten Stanley – Park in der Mitte. Die Atomosphäre ist wie aus einer anderen Zeit, klassische englische Reihenhaussiedlungen, alle mit dem typischen roten Backstein erstellt und mit unterschiedlich farbigem Anstrich. Wie auch in Kensington oder Edge Hill sind viele boarded- oder bricked-up. Der Wind treibt Zeitungsblätter durch die Straßen, eine Ecke weiter wirkt die Stille irritierend. Ein Erinnerungsmosaik.
Vauxhall, wo sich die irischen Einwanderer zum größten Teil ansiedelten, galt mit seinen engen Tenaments als großer Slum. Heute ist die Hauptachse, die Scotland Road, Tag und Nacht dicht befahren und durchfräst den Stadtteil wie auch die Einfahrten zu den Merseytunnels. Regeneration- Zones sind seit Jahrzehnten ausgeschrieben, und ganz allmählich kann man das eine oder andere Bauprojekt, wenn es auch nur ein Supermarkt sein sollte, ausmachen. Ansonsten wirkt die Gegend weiterhin wie eine Mischung aus Geisterstadt und etwas Bedrohlichem. Die Innenstadt – auch dort gab es in Teilen einen Jahrzehnte andauernden Verfall – sind entweder mit gigantischen Shopping-Projekten wie Liverpool 1 komplett verändert worden oder haben wie die Neo-Griechischen, klassizistischen Bauten ihre etwas deplazierte, aber zeitlose Würde bewahrt. Die St. Georges Hall oder die Walker Art Gallery beispielsweise gehören in gleichem Maße zum unverwüstlichen Stadtbild wie die Liverbirds oder der Pier Head. Das ehemalige Business-Viertel Moorfield mit seiner grandiosen Mischung aus klassischer Architektur, Pubs, Clubs und Kunst scheint gleichfalls unantastbar wie die Hope Street zwischen den beiden Gotteshäusern. Das Everyman Theatre und Bistro oder die Philharmonic Hall und das gleichnamige Pub haben ebenfalls die Zeit überdauert.
Writing on the Wall
WOW, 2017 in seinem achzehnten Jahr, ist ein alternatives Literaturfestival (das aber auch vom Britisch Arts Council unterstüzt wird) und neben dem poetischen auch einen politischen Anspruch hat. Auch ist die Verbindung von internationalen und lokalen Autoren nicht alltäglich. Liverpool birgt mit seiner Geschichte und seinen enormen Konstrasten unerschöpfliche Reize und Geheimnisse, die viele dazu animiert, auf ihr Umfeld schriftstellerisch (oder anderweitig) zu reagieren. Von der Generation, die mit oder nach den Riots aufgewachsen ist, machten sich an der Schnittstelle von Underground- und etablierter Kultur vor allem drei Autoren von der Merseyside einen Namen. Kevin Sampson, Helen Walsh und Niall Griffiths. Das Trio übte auch einen enormen Einfluss darauf aus, wie die Stadt abseits der Tourist Board – Broschüren wahrgenommen wird.
Kevin Sampson schrieb in den Achzigern für angesagte Publikationen der Jugendkultur wie NME, The Face ID, aber auch für den Observer. In den Neunzigern kehrte er von London an die Merseyside zurück und managte im Umfeld von Acid House-Hype und dem Club Cream The Farm, bevor er begann, Romane zu schreiben. Mit Awaydays – einer Geschichte, die im Umfeld von Tranmere Rovers-Hooligans spielt, landete er einen riesigen Erfolg. Die merkwürdige Verbindung von Streetculture, Kleidern und Gewalt wird authentisch – aus eigener Erfahrung – in eine Story um Freundschaft und Liebe eingebettet. Die nachfolgenden Bücher, die die Riots und Post-Punk (Stars are Stars), Gangstertum (Clubland) oder das Universitätsleben (Freshers) als Background behandelten, untermauerten Sampsons Ruf authentisch die Sprache der Stadt und den zahlreichen Subkulturen zu sprechen.
Weit weniger konventionell begann Helen Walsh ihre schrifstellerische Berufung in die Tat umzusetzen. Mit Brass, einem explosiven Debut, das, im Scouse-Slang geschrieben, auch eine gewisse Bereitschaft des Lesers fürs Entkrypitisieren voraussetzt, beschreibt sie die Szene um das Universitätsviertel und die Drogen/Prostitutionsszene um die Kathedrale.
Die neue Boheme trifft dabei auf die immer noch in äußerst prekären Umständen lebende Working Class.
Drastisch und in einer Sprache, die sich selbst wie ein Drogenrausch liest. Die folgenden Bücher von Helen Walsh sind formal konventioneller geschrieben – Once Upon A Time in England ist im weitgehentsten Sinn eine Familiengeschichte und trägt auch autobiographische Züge. Go To Sleep, die Schilderung einer postnatalen Depression, die sich durch monatelange Schlaflosigkeit zu einem seelischen Zusammenbruch auswächst, ebenfalls. Parallel dazu schildert sie eindrücklich die Arbeit der Protagonistin, einer Sozialarbeiterin im harten Liverpooler Norden. Beim WOW—Festival diskutierte sie nach einer Lesung vor leider nur einer handvoll Zuhörern im beliebten Everyman’s Bistro über Go To Sleep und ihren eigenen Werdegang. Walsh lebt mittlerweile in The Wirral, auf der anderen Seite von Liverpool, mit Kevin Sampson zusammen. Ihre Hauptthemen – Genderdebatten, Drogenpolitik, Sexualität, Klassengesellschaft – tauchen auch in Lemon Grove, einer weiteren Familiengeschichte, bei der sich nach und nach die Positionen verschieben (Ehepaar, Stieftochter, Freund) wieder auf.
Inzwischen wechselte sie für ein Projekt auch ins Filmfach. The Violators behandelt die gleichen Themen wie ihre Romane. In einer Sozialhaussiedlung hat sich die Hauptdarstellerin (Lauren McQueen)gegen Einschüchterungen und Missbrauch zu wehren. Sie trifft auf eine mysteriösen Fremde (Brogan Ellis), die sie zu verfolgen scheint, und die, ähnliche Probleme, aus der Oberschicht stammt und mehr in die Geschichte verflochten ist als man zuerst erahnen konnte.
Meist drastisch-poetisch geht es auch bei Niall Griffiths, der in Liverpool aufwuchs, zwischenzeitlich mit seinen Eltern nach Australien auswanderte und nun in Nord-Wales lebt, zu: Grits, Sheepshagger oder Wreckage verleitete die Kritiker Griffiths mit zeitgeistigen britischen Autoren in einen Topf zu werfen, wobei spätestens Kelly & Victor, eine intensive, auf gefährliche Weise romantische Liebesgeschichte inmitten einer rauen Stadt namens Liverpool im Umbruch zwischen Tradition und unsicherer Zukunft, und seine Reiseführer, beweisen sollten, dass man es hier mit einem über seinen eigenen Tellerrand hinausblickenden Autoren zu tun hat.
Liverpool – The Pool of Life, Part 1
September 27th, 2016
The Liverpool Biennial 2016
Die Biennalen sind in der Stadt am Mersey die beste, meist gar einzige Gelegenheit, Zutritt zu den grandiosen Gebäuden aus einer anderen Zeit zu erhalten: Lagerhäuser, Department Stores, Brauereien, Industriedenkmäler – beinahe alle nicht denkmalgeschützten, laufen Gefahr dem Abrissbagger, der Spekulation oder dem gnadenlosen Metamorphoseprozess der Gentrifizierung zum Opfer zu fallen.
Diese architektonischen Zeugnisse einer großem Vergangenheit – auch einer dunkler Natur – Liverpool war “der” Umschlagplatz des Sklavenhandels – scheinen in einer Stadt des permanenten Umbruchs wie in der Zeit eingefroren.
Darumherum, dazwischen und mittendrin ist im Stadtbild einerseits der jahrzehntelange Niedergang, der mit Massenarbeitslosigkeit und Verwahrlosung – ganze Stadtteile bestehen immer noch beinahe ausschließlich aus boarded up-houses – einherging, augenscheinlich, wie andererseits der fragile Aufschwung des letzten Jahrzehnts, der sich mit allen Nebeneffekten des Neoliberalismus – der Einkaufskomplex Liverpool One als neue Stadtmitte beispielsweise, sinnlosen Luxusapartments und Büroblocks, die sie niemand leisten kann, zeigt.
Die 9. Biennale, kuratiert von einem mehrköpfigen Team um Sally Tallant, greift das Thema des kontinuierlichen Wandels auf, der eine uneinheitliche, schwer zu erklärende Gefühlsmixtur aus Verlustängsten, Melancholie, Aufbruchsstimmung und Revitalisierung mit sich trägt. Eine gewisse Schicksalsergebenheit scheint in der Luft zu liegen, die mit der kreativen Schaffenskraft und dem robusten Widerstandsgen – Eigenschaften, die die Liverpudlians scheinbar mit der Muttermilch aufsaugen – die Atmosphäre am River Mersey bestimmen.
Es gehört beinahe schon zur Tradition der Biennale einen Bogen von der zeitgenössischen Kunst zu der Geschichte der Stadt zu spannen.
Das aus Austeritätsgründen nicht mehr finanzierte CUC-Lagerhaus, jahrelang das Epizentrum der avantgardistischen Künste der Stadt – noch kann man den Schriftzug an der Außenfassade schon von weitem sehen – darumherum verdichtet sich im sogenannten Baltic Triangle, die allgegenwärtige berüchtigte Mischung aus hochsanierten Lofts, gesichtslosen Hotelketten und sogenannten Kreativhubs – war genauso Ausstellungsstätte wie die Departmentstores in der Renshaw Street, die entlang der Innenstadt führt. Inzwischen reihen sich hier die Convenientshops aneinander. Die jahrelang verwahrloste Gegend der Everton Hights wurde begrünt und ein Urban Gardening – Projekt bei einer vorherigen Biennale führte die Kunstinteressierten auch einmal aus der nun konsumentenfreundlichen Innenstadt hinaus. In früheren Musikclubs und Übungskellern oszillierten die Soundschnipsel von verkratzten Schallplatten, die Philipp Jeck zu einer psychedlisch anmutenden Collage aus übereinanderlagernden Erinnerungen vermengte. Hundertausende Häuser in der Stadt stehen leer, die Türen und Fenster zugeschweißt oder zugemauert, um sie zum Abriss freizugeben.
2016?
Urban Gardening ist inzwischen schon längst vom Kunstkontext in den Alltag übergegangen. In den immer noch desolaten Straßen von Toxteth wird von engagierten Enthusiasten unweit des lokalen TV-Studios das Toxteth Food Central betrieben, teils aus Selbsthilfegründen, teils um einen Nachbarschafttreff ohne Konsumzwang zu bieten. Langjährige Brachflächen verwandeln sich zu blühenden Gärten oder zu Gemüsefeldern.
Wenn die zeitlosen archtektonischen Juwelen als Ausstellungsort genutzt werden sollen, dann, so die Kunstkritikerin des Guardian Rachel Cooke, muss die Kunst wirklich außergewöhnlich sein, um bestehen zu können oder so im Einklang mit der Architektur verbunden sein, dass sie praktisch untrennbar sind. Dass dieses Niveau bei so einer großangelegten Kunstschau nicht durchgehend hochgehalten werden kann, ist nicht verwunderlich.
Der rote Faden der Austellung, der die Werke miteinander verbinden soll, liest sich im Ausstellungskatalog auch etwas bemüht : “The Biennal explores fictions, stories and histories, taking voyages through time and space, drawing on Liverpool’s past, present and future. These journeys take the form of six episodes”.
Die ersten beiden beziehen sich dabei direkt auf die Stadtgeschichte.
Ancient Greece steht für die neoklassizistischen Gebäude der Innenstadt, die von John Foster und Harvey Lansdale Elmes in den frühen 1800 Jahren gebaut wurden. Chinatown: die Liverpooler – Chinese – Communty ist die älteste in Europa.
Children Episode: Die Künstler erhielten von den Kuratoren die Aufgabe, Kunst für Kinder als primäres Publikum zu kreieren. Monuments from the Future: Die Künstler sollten sich in die Rolle von Futurologen hineinversetzen. Wie sieht Liverpool in 20, 30 oder 40 Jahren aus? Flashbacks: Wenn sich Erinnerungen und die Gegenwart übereinanderlagern, kann dies etwas auslösen, was die geläufige Geschichtsschreibung erschüttert. Software: ziehlt auf ein breiteres Verständnis von Software hin, dass über ein rein technisches Verständnis hinausgeht.
Mark Leckeys Saw Mill – Filmcollage überlagert, verzerrt, manipuliert YouTube -Video- und Audiofootage, und zwar konkret eines
Joy Division-Auftritts im damals frisch eröffneten Eric’s und vermischt dieses mit anderem Material von TV-Shows, Werbeclips, tristen Monochrom-Filmmaterial von Brückenübergängen zu einem Sprung in die Vergangenheit und seiner eigenen Jugend in Liverpool bzw. Birkenhead. Die vermeintliche Genauigkeit und Authentizität des eigenen Erinnerungsvermögens wird dabei permanent in Frage stellt, da der Zahn der Zeit auch das Gedächtnis auf Glatteis führt.
Koki Tanaka stieß bei seinem ersten Besuch in Liverpool auf ein Buch des Fotographen Dave Sinclair, der in den 1980ern den Protest der Arbeiter und Studenten gegen den Thaterismus dokumentiert hat und selbst politisch aktiv war. Das Buch ist zudem auch ein faszinierendes Zeitzeugnis der Stadtarchitektur; Romantik und Desolation liegen immer ganz nahe beieinander. Tanaka lud einige der Demonstranten, die am 25.4.1985 bei einer großen Demonstration teilnahmen, dazu ein, ihre Erinnerungen zu schildern. Die Videos sind in der Open Eye Gallery, die seit einigen Jahren ja unweit des Pier Heads beheimatet ist, gezeigt.
The Oratory, bei der Anglikanischen Kathedrale , wurde von John Foster im neo-klassizistischen Stil gebaut; dort sind auch Skulpturen vorzufinden. Lawrence Abu Hamdans Rubber Coated Steel setzt sich mit der Frage von Ästhetik und Politik anhand eines – fragwürdigen – Audiodokuments aus der Westbank, angeblich wurden zwei Jungs bewusst von der Israelischen Armee erschossen – auseinander. Im Oratory begegnet einem auch die Arbeit von Jason Dodge – What the Living Do – und zwar in Form von scheinbar achtlos liegengelassenem Abfall – Kippen, Kaugummipapier, Plastikflaschen – auf dem Boden. Nach dem Besuch von anderen Ausstellungsorten wird einem klar, dass Dodge den Alltagsmüll, den die Bevölkerung achtlos auf die Straße wirft, gesammelt hat und nun überall wieder verteilt hat.
In den beeindruckenden Gebäuden der Cains Brewery und dem ehemaligen ABC-Cinema werden Werke von mehreren Künstlern ausgestellt und die Themen der Episoden treffen aufeinander. Letztlich kommt die ausgestellte Kunst hier tatsächlich nur schwer gegen die Schönheit und Widersprüchlichkeit der Architektur an. Andreas Angelidakis wurde durch den Hadron Collider inspiriert, Samson Kambalu erforscht den psychogeographischen Gehalt von Liverpools Monumenten, Lara Favarettos Koffer stammen von Flohmärkten, Schutthalden oder sind an den Stellen für verlorenes Gepäck nie abgeholt worden. Sie kombiniert den Inhalt mit eigenen Gegenständen, verschliesst die Koffer und wirft die Schlüssel weg.
Die Skulpturen-Austellung in der Tate im Albert Dock verträgt dagegen gut das Zusammenspiel mit zeitgenössischen Werken wie auch, die diesesmal an die Biennale angegliederte Austellung des John Moores Painting Prize in der altehrwürdigen Walker Art Gallery, wo die zeitgenössichen Bilder von denen der Sammlung umgeben sind.
In den weitläufigen, teilweise immer noch verwaisten Straßen von Toxteth trifft man auf die spannenste Kunst der diesjährigen Ausstellung, vielleicht auch deshalb, weil sie direkt Stadtgeschichte und Kunst miteinander verbindet und gleichzeitig auch eine Form urbaner Landart ist. Die seit Jahren in Brachflächen stehenden großformatigen Schilder – Regeneration Zone: We’re building the Future – manifestierte sich bislang konkret nur im Errichten einiger Supermarktsketten.
Lara Favarettos Momentary Monument – The Stone 2016 – steht mitten in der Rhiwlas Street, dessen Reihenhäuser alle verlassen und “boarded up” sind; ein einsamer Baum gedeiht prächtig und kündigt die Rückeroberung durch die Natur an. The Stone ist ein mächtiger Granitbrocken mit einem Schlitz, in den Vorbeikommende Münzen werfen können. Am Ende der Ausstellung wird der Stein zerstört werden und der Inhalt einer lokalen Hilfsorganisation – Asylum Link Merseyside – zu gute kommen.
Im ehemaligen Toxteth Reservoir, einem dunklen, feuchten Kellergewölbe wird die düstere Atmosphäre von einer langen Laserinstallation von Rita McBride, einem Wurmloch bzw. einer Einstein-Rosen-Brücke, die quer durch den ganzen Raum gespannt ist, in eine unwirkliche, schöne andere Welt verwandelt und in grünes Licht getaucht.
Nippon Connection
June 19th, 2016
16. Japanisches Filmfestival
Frankfurt am Main
Ganz im Gegensatz zu den an visuellen Reizen überbordenden und permanent das Genre wechselnden Filmen, die sein Markenzeichen geworden sind, realisierte Sion Sono mit The Whispering Star eine meditativ-ruhige und ironische Zukunftsgeschichte, die seine Empfindungen auf die Katastrophe von Fukushima darzustellen versucht. In den verlassenen Sperrbezirken filmte er mit – zumeist – Laiendarstellern, aber auch dem (Erotik-) Star Megumi Kagurazaka, eine Parabel, die eifrig zitiert (z.B. bei Kubricks 2001), aber auch die typisch-surrealistische Handschrift, die mitunter zu seinem Markenzeichen geworden ist, nicht verleugnet. Die interstellare Postbotin Yoko, ein Android, reist durch Raum und Zeit und stellt Pakete innerhalb einer Lieferzeit von elf Jahren zu; diese, an Sonderlinge, die in den desolaten Landschaften überlebt haben. Die Pakete beinhalten persönliche, teils abstruse Gegenstände, die wiederum als Hommage an Yôko Ogawas Roman Das Museum der Stille gesehen werden dürfen. Die Wissenschaft mache ständig Fortschritte, trotzdem sei der Mensch bloß eine Art Gartenzwerg, der es im glücklichsten Fall gerade einmal auf 100 Lebensjahre bringe, meint Sion Sono.
Sein zweiter Film – Love & Peace – vermischt dann wieder in gewohnter Weise alle möglichen Filmsparten zu einer überdrehten, wilden Komödie.
Ein anderer Altmeister – Gakuryu Ishii – drückt mit That’s It, nach mehreren ruhigen, beinahe psychedelisch-anmutenden Filmen und der ironischen Theateradaption Isn’t Anyone Alive? wieder wie in der Anfangszeit auf die Tube und bezieht sich in einer speedigen, überdrehten Gangstergeschichte auf seine Punkroots.
Die große Kunst der Festivalbetreiber ist es, jedes Jahr die richtige Mischung aus Spielfilmen, Animations- und Dokumentarfilmen, Genre- und Experimentalkino zusammenzustellen; sinnvollerweise in die Sparten Nippon Cinema, Nippon Animation, Nippon Visions und Nippon Retro unterteilt. (die Rahmenprogramme Nippon Culture und Nippon Kids locken dann auch nicht nur die Filmfreaks in die Räumlichkeiten des Festivals).
Was ursprünglich aus einer gemeinsamen Affinität für das japanische Filmschaffen im kleinen Rahmen an der Frankfurter Universität entstanden war, hat sich über die Jahre zum wichtigsten Festival für japanische Filme außerhalb des Landes entwickelt. Und seit dem Umzug in die Naxoshalle und den Mousonturm als Festivalzentrum, stößt die sechstägige Veranstaltung auch auf ungebrochenes Publikumsinteresse; viele Veranstaltungen waren dieses Jahr wieder ausverkauft. (ungeachtet dessen, dass die Filme im Original mit englischen Untertiteln laufen). Die sich immer noch zumeist aus Film – Enthusiasten und engagierten Freiwilligen zusammensetzende Crew schafft mit ihrem Know – How weiterhin souverän den Spagat zwischen DIY-Kultur und “normalen” Festival hinzubekommen.
Im größten Veranstaltungssaal – dem Mousonturm – werden die auf das größte Publikumsinteresse stoßenden Spielfilme der Nippon Cinema- Reihe aufgeführt. Außer den erwähnten Filmen von Sono und Ishii, die durch ihre Transzendenz eher den Rahmen sprengten, gab es hier wieder skurrile Komödien, Sozialstudien, Horror- und Gangsterfilme zu sehen, die aber durchwegs eher dem Unterhaltungskino zuzuordnen waren
Den diesjährigen Nippon Honor Award erhielt Kiyoshi Kurosawa. Drei Filme wurden zu diesem Anlass von ihm präsentiert: Sein Klassiker Cure von 1997, der Thriller Creepy, der trotz einiger Patzer und Ungereimtheiten in der Geschichtenerzählung, gekonnt bis zum Schluß an der Spannungsschraube dreht und Journey to the Shore, einem emotional-aufgeladenen Drama, das wiederum den Kitschfaktor in gefährliche Höhen trieb und diesbezüglich mit Nagasaki: Memories of My Son (Yoji Yamada) wetteiferte.
Gonin Saga von Takashi Ishii ist der Nachfolger seines überstilisierten Gangsterfilm aus den Neunzigern und kultiviert einen sympathischen Retrocharme. Ähnlich aus der Zeit gefallen schien The Inerasable von Yoshihiro Nakamura, ein Film, der mit seinem Goth-Touch der Sparte J-Horror zuzuorden ist. Takeshi Kitano staubte mit seiner ironisch-gebrochenen Ryuzo and the Seven Henchmen den Nippon Cinema Award 2016 ab, und hängte locker Familienkomödien wie The Mohican Comes Home (Shuichi Okita) oder bemühtes Slackertum wie Lowlife Love (Eiji Uchida), der die Korumpiertheit des (Indie-) Filmbusiness als Thema hatte, ab.
Seifenopern mit J-Popstars – Pink and Gray (Isao Yukisada)- , Filme, die eingebettet in Familengeschichten das rigide Schul/klassensystem Japans – Flying Colors (Nobuhiro Doi) und /oder Kindheitraumata Beeing Good (Mipo O) beleleuchten, Liebesgeschichten – Pieta in the Toilet (Daishi Matsunaga), A Cappella (Hotoshi Yazaki), Three Stories of Love (Shogo Ueno), Their Distance (Rikiya Imaizumi) rundeten das diesjährige Programm dieser Sparte ab.
Mit Hibano gab es zusätzlich die Gelegenheit die zehn Folgen der ersten Netflix Japan-Serie zu sehen.
Neben den “großen” Unterhaltungs-Spielfilmen setzt vor allem das sich aus experimentelleren Filmen und Dokumentationen gestaltene Programm der Nippon Visions – Sparte Maßstäbe und grenzt sich vom Mainstream ab. Es ist beruhigend auch dieses Jahr wieder bestätigt zu bekommen, dass auch der unkonforme Anteil an den japanischen Produktionen ungebrochen ist und immer wieder Außergewöhnliches entsteht.
Dies nichtsdestotrotz, dass sich die Wirtschaftskrise nach und nach auch immer stärker auf das Filmschaffen auswirkt, was bei den Q & A’s mit Regesseuren/innen und Schauspielern im Rahmen der Aufführugen immer wieder zur Sprache kam.
Der Schwerpunkt dieses Jahr war: Fukushima, fünf Jahre danach! Verschiedene Dokumentar- und Spielfilme thematisierten die Nachwirkungen und die Konsequenzen, die aus der Katastrophe entstanden sind, z.B. My Technicolor Girl von Rei Sakamoto, Landscapes After 3/11 oder A Lullaby Under The Nuclear Sky von Tomoko Kana.
Ein weiterer Höhepunkt war sicherlich das trocken-experimentelle Historiendrama Sanchu Uprising von JuichiroYamasaki, das die Geschichte des Aufstands der Bevölkerung von Sanchu im Jahre 1726 schildert. Die strengen Schwarz-Weiß-Bilder unterlegt Juichiro Yamasaki mit Free-Jazz-Einsprengseln; nebebei erweist er auch der Kunstform des Nô-Theaters seine Ehre.
The Ark in the Mirage von Yasuyuki Sasaki beginnt als düsteres Sozialdrama – junge Männer quatieren Obdachlose in einer Containersiedlung ein und kassieren ihre Sozialhilfe ab – um dann in eine Art metaphysische Wendung zu abzudriften und auf ein offen-experimentelles Ende hin zuzusteueren.
Von Daisuke Hosaka waren der Kurzfilm Thank You, Mom und sein Kult-Sci-Fi Be The World For Her in einem Doppel-Feature zu sehen, beide Filme untermauerten nachhaltlich seinen Ruf ,einer der originellsten Regisseure zu sein und dazuhin einen schräg-bizarren Humor zu pflegen.
Good Stripes von der Regissuerin Yukiko Sode ist eine lakonische, leicht-verschrobene Beziehungskomödie, die durchaus auch in einem New Yorker-Setting vorstellbar wäre;
Deer Deer von Tekeo Kikuchi seziert in unterhaltsamer Weise familiäre Zerrüttungen, anhand eines Treffens, genauer der Tod des Vaters, der die Kinder wieder an ihren Heimatort in der japanischen Provinz zuammenführt. Der älteste Sohn hat sich eine wacklige Existenz im Heimatdorf aufgebaut, der jüngere durchlebt immer wieder schiziphrene Epiosoden, die in Zusammenhang mit dem vom Tourismuamt des Städtchens propagierten Hirschreservat stehen. Die Tochter flüchtete in die Großstadt, bekam dort aber ihre Leben und ihre Ehe auch nicht in den Griff und trifft im Heimatdorf auf einen Ex-Geliebten. Die problematische Entvölkerung und Überalterung der ländlichen Gegend Japans spielen im Hintergrund der Geschichte eine gewichtige Rolle.
Her Father My Lover von Kenji Yamauchi fällt dann wieder in die, sehr japanische, Sparte: bizarr-perverse Komödie. Eine junge Frau verliebt sich in den Vater ihrer besten Freundin und kickt damit das erste Glied einer Eskaltionskette an.
Die Dokumentation Dryads in a Snow Valley von Shigeru Kobayashi lässt Großstadtaussteiger, die sich in die Berge von Niigata niedergelassen haben, zu Wort kommen. Nach dem Erdbeben sind auch dort viele Häuser zu Schaden gekommen oder ganz zerstört worden. Die Zugezogenen erzählen ihre Geschichten und Pläne, von der Restaurierung, vom Kultivieren alter Reisfelder oder vom Selbstversorgen und wie sie von den Bewohnern der verschiedenen Dörfer herzlich aufgenommen worden sind. Im Hintergrund verinnt die Zeit und die Jahreszeiten wechseln, der strenge Winter bringt Massen von Schnee, das Wiedererwachen der Natur im Frühling verändert im Nu die ganze Landschaft. Nebenbei ist dies auch eine Geschichte des Sterbens und der Wiedergeburt. Wie es in der Einführung hieß, starben zwei am Film Beteiligte: an einer tödlichen Krankheit und durch Selbstmord.
Ausgezeichnet wurde Under the Cherry Tree von Kei Tanaka, ein weiterer Dokumentarfilm, der Senioren in einer Sozialbauanlage portraitiert und die zunehmende Überalterung der japanischen Gesellschaft dokumentiert.
Die Animationsreihe hat ihre eigenen Anhänger und zeigte dieses Jahr neben einigen Großproduktionen auch wieder eine Kurzfilmzusammenstellung von unabhängigen Künstlerinnen: A Wild Patience – Indie Animated Shorts.
Das mit kundigen Einführugen akademisch aufgewertete Retroprogramm im Deutschen Filmmuseum widmete sich diesesmal nicht einem singulären Regisseur, stattdessen einem Thema: Ghosts & Demons, Scary Tales from Japan. Neun Klassiker wie The Ugetsu Story (Kenji Mizoguchi), The Ghost Story of Yotsuya (Nobuo Nakagawa) oder The Bride from Hades (Satsuo Yamamoto), allesamt Meilensteine, konnte man in hervorragender Qualität sehen.
Onibaba von Kaneto Shindô stach aus diesem exquisiten Programm besonders heraus: dieser hochästethische Schwarz-Weiß-Film von 1964 erzählt eine minimalistische Geschichte, die subtil Horror-, Neorealismus- und Erotikfilmelementen zitiert, aber letztlich uneinsortierbar bleibt.
Die Geschichte spielt Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zu Zeiten als in Japan Bürgerkrieg herrschte – könnte aber in ihrer Zeitlosigkeit auch in einer postapokalyptischen Welt angesiedelt sein. In einer andersweltlichen Pampaslandschaft an einem See, in der die langen Gräser endlos hin- und herwehen und eine ungebrochene Schönheit suggerieren, schlägt die Stimmung innerhalb eines Wimpernschlags in rücksichtlose Gewalt um; Stille, in der nur das Rascheln der Gräser zu hören ist wechselt sich mit donnernden Trommeln ab.
Zwei Frauen, Schwiegermutter und Tochter leben in diesen Kriegszeiten davon, dass sie verirrte Krieger in der Graslandschaft irreführen und in ein tiefers schwarzes Loch fallen lassen, wo sie aufgespießt und getötet werden. Die Rüstungen und die Schwerter verkaufen sie an einen Waffenhändler. Als der Freund des im Krieg getöteten Ehemanns der jungen Frau zurückkehrt, entspinnt sich ein erotische Spannung und Begehren zwischen den Beiden. Die Schwiegermutter versucht mit einer Dämonenmaske, die sie sich aufsetzt und damit im Schilf wartend, die nächtlichen Treffen der jungen Frau zu unterbinden, mit der Konsequenz, dass die Maske an ihr Gesicht anwächst. Dies, eine Anleihe an eine alte Shin-Buddhistische Geschichte, die Shindo von seiner Mutter hörte. Letztlich endet alles im Verderben, nur die Natur bewahrt ihre Schönheit.
Ripples
March 5th, 2016
Pierre von Kleist editions – Ein unabhängiger Verlag für Fotobücher
Als vor sechs Jahren der Name und das Icon von Pierre Von Kleist auftauchte, gab es unter dem kleinen Zirkel derjenigen, die der Fotokunst nahestehen, einige Spekulationen. Wer könnte sich hinter diesem gezeichneten Konterfei auf einer Münze verbergen? Die altmodische Frisur und der breite Schnurrbart ließen auf eine leicht verschrobene Figur schließen. Und tatsächlich, die Website beschrieb Pierre von Kleist als einen leidenschaftlichen Sammler von Fotobüchern und Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Unglücklicherweise wurde der Großteil seines Bestandes Opfer eines Brandes. Die Suche im Internet führte zu einer Adresse in Lissabon.